Dunkle Symphonie der Liebe
brauchte kein Licht, und es sagte einiges darüber aus,
wie gut sie ihn kannte, dass sie dasselbe bei ihm voraussetzte.
»In der Nacht, als meine Eltern
starben, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich wachte auf und bekam kaum
noch Luft. Ich rief nach ihnen, aber sie hörten mich nicht. Dann lief ich an
Deck. Ich konnte irgendwo das Ticken einer Uhr hören. Als ich es später Nonno erzählte,
sagte er, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber so war es nicht. Ich wusste,
dass eine Bombe auf dem Boot war. Ich sprang ins Meer, im selben Moment, als
die Bombe explodierte.«
Die Tür fiel hinter ihnen ins
Schloss und sperrte sie in dem engen Gang ein. Es war stockfinster. Kein Licht
drang in das Labyrinth. Der Weg war so schmal, dass Byrons Schultern beinahe an
beiden Seiten die Wände streiften. »Es ist durchaus möglich, dass du etwas
gehört und gespürt hat. Viele
Leute haben eine innere Alarmanlage
und sogar eine Art Radarsystem.«
»Jahrelang habe ich mir
Vorwürfe gemacht. Ich habe meine Eltern dort gelassen. Sie kamen nicht an
Deck, als ich schrie, dass wir in Gefahr wären. Ich weiß nicht, warum, aber sie
kamen nicht.« Sie führte ihn um zwei scharfe Biegungen herum und bog von dem
breiteren der zwei Gänge ab. »Damals habe ich zum ersten Mal das wilde Tier in
mir gespürt.«
Byron, der fühlte, wie sich
ihre Finger unwillkürlich fester um seine Hand schlössen, zog sie eng an sich.
»Du warst ein Kind, Antonietta, erst fünf Jahre alt. Du bist selbst nur knapp
dem Tod entkommen. Offensichtlich hast du lang genug gezögert, um beinahe
selbst mit in die Luft zu fliegen.«
Sie strich mit einer Hand
zärtlich über seine Brust. Ihre Finger zitterten. »Das weiß ich ... jetzt.
Kinder neigen dazu, sich selbst die Schuld zu geben. Ich drehte mich um, als
ich merkte, dass sie nicht an Deck gekommen waren, und schrie ganz laut, dass
sie sich beeilen sollten.« Einen Moment lang lehnte sie ihren Kopf an seine
Brust. »Ich war zu klein, um über die Reling klettern zu können, aber ich
spürte, wie sich eine Kraft in mir regte, die immer stärker wurde und sich in
meinem ganzen Körper ausbreitete. Die Nacht war dunkel, der Mond schien nicht,
und alles war finster. Das Meer war schwarz. Auf einmal fühlte ich etwas unter
meiner Haut, fast wie etwas Lebendiges, und es kratzte schrecklich. Und dann
konnte ich alles sehen, nicht wie sonst, sondern ganz anders. Die Nacht war
plötzlich hell und klar. Ich konnte hören, wie meine Mutter meinem Vater
zuflüsterte, dass sie nach mir schauen wolle und gleich wieder da wäre. Sie
dachten, ich hätte einen Albtraum. Aber es war bereits zu spät. Ich sprang auf
die Reling, mit einem einzigen Satz. Es war ganz leicht. Im nächsten Moment
wurde alles weiß, dann rot und orange, und dann wurde mir schwarz vor Augen.«
Byron konnte den tief in ihrem
Inneren sitzenden Schmerz spüren. Es kam nicht darauf an, dass all das vor
vielen Jahren passiert war, in Antoniettas Erinnerung waren die Ereignisse noch
so frisch wie an dem Tag, an dem sie stattgefunden hatten. Er hielt sie eng an
sich gedrückt und vergrub sein Gesicht in ihrem duftenden, seidigen Haar. »Ich
bin so froh, dass du überlebt hast, Antonietta. Dass du deine Eltern verloren hast,
tut mir sehr leid. Du musst sie sehr geliebt haben.« Er sehnte sich danach,
ihre allgegenwärtige geistige Barriere zu durchbrechen, wollte ihre
Erinnerungen sehen, wollte wissen, worum es sich bei der Kraft in ihrem
Inneren gehandelt hatte und woher diese Kraft gekommen war.
»Sie waren wundervoll. Man sah
sie fast ständig zusammen. Sie waren einander so nah. Ständig schienen sie
irgendwelche Geheimnisse zu haben. Komm, ich will dir etwas zeigen.« Sie trat
einen Schritt zurück und berührte ihn an der Hand. »Ich habe nie jemandem
erzählt, was in dieser Nacht wirklich passiert ist. Ich wusste, dass man mich
für verrückt halten würde. Ich bin mit den heilenden Kräften der Scarlettis zur
Welt gekommen. Und einige von uns sind telepathisch veranlagt, obwohl diese
Fähigkeit begrenzt ist. Ich konnte nie mit irgend- jemandem so mühelos
kommunizieren wie mit dir.« Sie blieb in der Mitte des langen Gangs stehen und
fuhr mit ihrer Handfläche über die Seitenwand. »Als ich diesen Raum entdeckte,
war er völlig mit Spinnweben überzogen. Ich glaube, hier ist seit einer
Ewigkeit niemand mehr gewesen.«
Byron legte seine Hand auf
ihre, ließ seine Finger in die jahrhundertealte Einbuchtung gleiten und
ertastete den verborgenen
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