Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
sie lesen?«
»Klar konnten sie lesen!«, erwiderte Min verärgert. »Wir mussten ja auch alle in die Schule gehen, egal, ob das der Schule passte oder nicht. Und die meisten Frauen konnten ebenfalls lesen. Gebete haben sie gelesen. Die standen auf kleinen Karten, so richtig altmodische Wörter. Schwere Wörter. Und alles über Heilmethoden haben sie gelesen. Oder Filmstarzeitschriften. Sie brachten oft ganz tolle Zeitschriften aus Wales mit.«
»Warum hast du mir das noch nie erzählt?«, fragte ich.
»Ich hab’s vergessen.«
»Stimmt doch gar nicht.«
Ich erinnerte mich auch daran, dass ich eines Tages zu ihr sagte: »In Dubliners geht es dauernd nur um den Tod.« Ich arbeitete damals noch im Kaufhaus Pillar und las unter dem Kassentisch, in der Abteilung für irische Souvenirs und Geschenke. Ich las die Taschenbuchausgabe von Joyces Werken, die es bei uns zu kaufen gab. »In der besten Geschichte kommen alle möglichen Tode vor, und sie heißt sogar ›Die Toten‹. Es geht um einen Ehemann, der depressiv ist, weil er seine Frau nicht richtig versteht.«
»Ach, der Ärmste!«, unterbrach mich Min mit einer plötzlichen Heftigkeit. Sie stand in der Tür zur Waschküche und legte jetzt richtig los. »Als Reenys Mann Zigaretten kaufen ging und nie mehr zurückkam, hatte Reeny ein kleines Kind, und sie musste weitermachen, Depression hin oder her. Dein Vater war lange
vor seinem Tod so krank, dass er nicht mehr arbeiten konnte – wie lang ging das? Zwei Jahre. Zwei Jahre, hörst du? Es kam kein Geld ins Haus, außer dem Krankengeld. Du hast einen tollen Job, und du bist erst sechzehn, du hast genug zu essen und schöne Klamotten, also erzähl mir nichts von Depressionen!«
Mit anderen Worten – sie wollte nicht, dass ich anders war als sie und die übrigen Frauen in unserem Umfeld. Im Grunde war ich damals auch gar nicht anders. Ich fing ja gerade erst an zu lesen. Ich lernte die Welt durch reale Menschen kennen und durch die Menschen in Büchern – für mich machte das kaum einen Unterschied. Dilly Dedalus war genauso wie das Mädchen, dessen Mutter in demselben Sanatorium wie mein Vater gewesen war. Das Mädchen hing immer vor dem Kilbride Inn herum und wartete auf ihren Vater, um von ihm ein paar Schillinge für Lebensmittel zu bekommen, für die kleinen Geschwister. Min fragte: »Was ist das für ein Wort? Was heißt das?« – das Wort war »haberdashery« – Kurzwarengeschäft. Ich musste in die Bibliothek gehen, um es nachzuschlagen, weil es damals noch keine Internet-Suchmaschinen gab. Und das war auch nicht anders, als wenn Molly Bloom sich bei Poldy nach der Bedeutung von »metempsychosis« (Seelenwanderung) erkundigte. Außer dass Min mich angriffslustig musterte, wenn sie ihre Fragen stellte, als hätte sie Angst, ich könnte sie auslachen, weil sie so etwas wissen wollte.
Vielleicht hatte sie auch etwas dagegen, dass ich las, weil mich nichts und niemand daran hinderte, während sie von allen Seiten gehindert worden war.
»Rosie!«
Als ich Tessa nach unserer Begrüßungsumarmung wieder losließ, versuchte ich, sie ein bisschen anzuschubsen, damit sie in der Selbstbedienungsschlange vor mir ging und nicht sehen konnte, was ich auswählte.
Ohne Erfolg.
»Nicht Quiche und Kuchen, das sind zwei Sorten von Gebäck.« Sie zischte das ganz leise, damit die Beamten, die an den Tischen saßen und mampften, sie nicht hörten.
»Was geht dich das an? Du bist ein Diktator!«, fauchte ich aggressiv zurück. Aber ich ließ den Kuchen stehen. Sonst hätte ich mir einen Vortrag über Selbstdisziplin anhören müssen, wie immer. Nebst der Lektion über Gesundheit und Fitness, die Tess in den Achtzigerjahren zu ihrem Repertoire hinzugefügt hatte. Und wahrscheinlich auch noch ihre Predigt über die schwindenden Ressourcen unserer Erde, die neuerdings ebenfalls dazugehörte.
Tess hatte einmal mir gegenüber den Ausdruck »Trost-Essen« verwendet, und ich war so sauer darüber gewesen, dass ich sofort zurückschoss: »Du könntest selbst ein bisschen Trost vertragen.« Vor Schreck war sie ganz rot geworden. Aber sie konnte es einfach nicht lassen, über die Anzahl der Kohlehydrate zu dozieren, manchmal mit einem leise klingelnden Lachen, als wäre ihr das Thema gerade erst rein zufällig in den Sinn gekommen.
»Tessie«, sagte ich. »Lass mich bitte in Ruhe, okay? Ich esse heute Abend einen Salat, das verspreche ich dir hoch und heilig. Aber was ich dich fragen wollte – welche Kunstform magst du am
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