Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
wollte und dass es daran nichts zu rütteln gab? Was würden mein Dad und ich dann tun?
Schwester Cecilia winkte mir zu, ich solle sie ein Stück begleiten, als sie zum Kloster zurückeilte. Sie sagte nur: »Hab noch ein bisschen Geduld, das geht vorbei. Deine Tante ist nicht krank.«
Inzwischen hatte ich begriffen, dass sie damals nicht zu mir sagen konnte: »Deine Tante ist siebenundzwanzig, und sie hat kein eigenes Leben. Sie sieht, wie du zu einem feinen jungen
Mädchen heranwächst, und sie selbst war nie richtig jung.« Sie konnte nicht sagen: »Deshalb und noch aus vielen anderen Gründen ist deine Tante unglücklich.« Zu der Zeit war es in Kilbride nicht vorgesehen, dass jemand unglücklich war.
»Was denkst du, Reeny?«, fragte ich jetzt. »Ich verstehe ja, dass Min früher nicht viel vom Leben hatte. Ich war den ganzen Tag in der Schule, und Daddy war schwer krank. Aber jetzt? Sie ist neunundsechzig! Und versteckt sich auf dem Flughafen in der Damentoilette! Warum macht sie so etwas? Sie wollte die ganzen Jahre nicht mal eine Pauschalreise buchen! Und ich hätte sie doch auch überall hingefahren! Aber sie hat sich erst einen Pass besorgt, als sie nach Lourdes gefahren ist.«
»Also, ich habe zu Pearl gesagt – das hat was mit Amerika zu tun. Min muss gedacht haben, es wäre ihre letzte Chance, dorthin zu kommen.«
»Aber ich wäre doch auch mit ihr nach Amerika geflogen, wenn sie …«
»Ich meine das Amerika von früher. Wenn sie dort hingefahren wäre, als es noch gepasst hat. Auf ihre Art. Hat sie dir je erzählt, dass sie nach dem Krieg eigentlich in die Staaten sollte? Sie hat gedacht, niemand kann sie aufhalten. Der Krieg war vorbei, und selbst ihr Vater hat gesagt, sie kann gehen. Sie hatte sogar genug Geld. Dann bekam der Priester die Nachricht, dass deine Mutter nicht mehr lange leben wird und dass niemand für dich da ist. Und später, in den Jahren, als du mal hier warst und dann wieder weg, da hatte sie eigentlich nie Geld. Jedenfalls nicht genug, um nach Amerika zu fliegen. Niemand hatte Geld für so was. Aber jetzt! Sie hat schon oft zu mir gesagt, seit du heimgekommen bist, muss sie nichts mehr ausgeben.«
»Ich glaube trotzdem nicht, dass es am Geld lag«, sagte ich noch, als ich mich von Reeny verabschiedete.
Ich dachte daran, wie Min immer die »Great Voices« hörte. Unser Leben in Kilbride war unschuldig gewesen, aber Min
schien sich nach der noch perfekteren Unschuld dieser Stimmen zu sehnen. Min wusste, was Sehnsucht ist.
Zu Hause machte ich kein Licht an. Ich saß am Tisch in der dunklen Küche. Einen Moment lang überlegte ich mir, ob ich an meinem nächsten »Gedanken« arbeiten sollte, aber mir schwirrte der Kopf. Die Träume, die Min früher einmal hatte, der Elektroingenieur in Milbay und die Untertöne bei unserem Gespräch, meine Sorge um die kleine Hündin und ob ich sie je wiedersehen würde – ich hatte einfach keinen Nerv, an unser Inspirationsbuch zu denken.
Wahrscheinlich war das der Hauptgrund, weshalb solche Ratgeber oft sehr leblos wirkten, dachte ich. Sie erwähnen nie die normalen Alltagsdinge, die doch jede Sekunde unseres Lebens erfüllen. Sie erfassen nicht die dicht gewobene Struktur des Lebens. Und sie achten nicht auf den Erfahrungskontext: ob man zum Beispiel ein Mann ist oder eine Frau, ob jung oder alt, irisch oder amerikanisch, arm oder reich, gebildet oder ungebildet. Ob man in einem anständigen Haus aufgewachsen ist und von Menschen erzogen wurde, die einen förderten und verwöhnten, oder ob man das Leben in einer anderen Umgebung kennengelernt hat. Die Ratgeber, die ich kannte, waren voller Parabeln über Marionetten, die in einer Dimension ohne jede geografische und historische Bindung herumtanzten.
Und all die Brads und Carols und Martys und Rachels, allesamt ausgestattet mit verschiedenen Qualifikationen wie zum Beispiel mit einem Job in der Werbung oder im Bereich Webdesign – man sollte denken, ihr Leben würde ausschließlich von ihrem Willen bestimmt. Man brauchte ihnen nur zu sagen, wie sie alles besser machen konnten, und – hokuspokus, schon machten sie alles besser. Offenbar waren die Menschen, die Probleme hatten, für die Leute, die diese Lebenshilfebücher schrieben, gar nicht real. Ihre Ratschläge waren real, aber nicht die Menschen, denen sie diese Ratschläge erteilten.
Schmalzige Tanzmusik schwebte durch den dunklen Raum. Aha, Reeny hatte mal wieder einen Anfall. An manchen Abenden spielte sie Chris de Burghs
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