Dunkle Umarmung
warmen Himmelblau zu frostigem Eisblau, als er sich wieder an diese Tragödie erinnerte. »Es ist im Irrgarten passiert.«
»Im Irrgarten!«
»Ja, und unglücklicherweise war der kleine Troy zu diesem Zeitpunkt bei ihm.«
»O nein!« rief ich aus.
»Sie wollten ans andere Ende laufen. Wir haben dort ein kleines Häuschen. Heute benutzt es niemand mehr, aber es ist etwas ganz Besonderes, und deshalb haben wir es stehenlassen.
Troy glaubt, daß es ein verzauberter Ort aus einem seiner Kinderbücher ist. Wußten Sie, daß er schon mit etwa zweieinhalb Jahren gelesen hat? Ein Kindermädchen, das wir damals bei uns beschäftigt haben, Mrs. Habersham, hat es ihm Stunden über Stunden geduldig beigebracht. Er ist sehr, sehr klug und seinem Alter weit voraus.«
»Ich weiß, aber wie schrecklich muß es für ihn gewesen sein, mitten im Irrgarten zu stehen, wenn so etwas passiert! Was hat er getan?«
»Erstaunlicherweise ist er nicht in Panik geraten. Ein anderes Kind in seinem Alter hätte sich höchstwahrscheinlich neben die Leiche seines Vaters gesetzt und geweint. Aber Troy hat erkannt, daß unserem Vater etwas Ernstes zugestoßen sein muß, und er hat schnell den Weg aus dem Irrgarten gefunden.
Ich kann ihn heute noch schreien hören, als er auf die Haustür zugerannt ist. Wir sind sofort zu meinem Vater geeilt, aber es war schon zu spät.«
»Das tut mir leid. Was für eine traurige Geschichte«, sagte ich und dachte wieder daran, wie es wäre, meinen eigenen Vater zu verlieren.
»Für Troy ist es natürlich noch schlimmer gewesen. Kein Kindermädchen kann ihm eine Mutter ersetzen, und ganz gleich, was ich tue, ich bin kein Ersatz für einen Vater. Ich kann nicht genug Zeit mit ihm verbringen.«
»Ist Mrs. Habersham noch hier?«
»Nein, sie ist krank geworden und mußte nach England zurückkehren. Im Moment ist Mrs. Hastings Kindermädchen und Dienstmädchen gleichzeitig. Hier«, sagte er, »jetzt brauchen wir nur noch über diesen Hügel zu laufen. Troy ist schon am Strand.«
Sowie wir über die Kuppe gekommen waren, lag das Meer vor uns. Es war ein atemberaubender Anblick. Troy war unten am Strand und grub schon mit seiner Schaufel im Sand. Der Strand zog sich in beide Richtungen, soweit das Auge reichte.
»Ist das Ihr Privatstrand?« fragte ich überrascht.
»Ja. Dort ist eine kleine Bucht«, erklärte er und deutete nach rechts, »ein ganz privater, abgeschiedener, stiller Ort, den ich früher immer aufgesucht habe, wenn ich allein sein wollte.«
»Wie traumhaft.«
»Gefällt es Ihnen hier, Leigh?« fragte er und sah mich wieder mit diesen durchdringenden Augen an.
»Ja, sehr.«
»Das freut mich.« Er lächelte mich mit einer solchen Wärme an, daß sein Blick mich fast einsog. Wie alt er wohl sein mochte? fragte ich mich. Zeitweise wirkte er weltgewandt und sehr, sehr klug, und dann wieder schien er ein großer Junge zu sein. Er sah wieder auf das Meer hinaus.
»Hier ist es wunderschön«, sagte er. »Als ich sieben war, wurde ich nach Eton geschickt, weil mein Vater fand, die Engländer verstünden sich besser auf Disziplin als unsere Privatschulen. Er hatte zwar recht, aber ich habe immer nur davon geträumt, wieder zu Hause zu sein, auf Farthy.« Er schloß die Augen und fügte mit sanfter Stimme hinzu: »Immer, wenn ich Heimweh hatte, habe ich die Augen zugemacht und mir eingeredet, ich könnte die Tannen, die Föhren und die Kiefern riechen, und noch stärker als alles andere die salzige Meerluft.«
Als er redete, hielt ich den Atem an. Ich hatte nie jemanden so von seinem Zuhause sprechen hören. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Er schlug die Augen so abrupt auf, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige gegeben.
»Aber es bringt eine Menge Verantwortung mit sich, ein Anwesen dieser Größenordnung zu verwalten und ein Geschäft zu leiten, das sieh sprunghaft ausweitet. Und dazu kommt noch ein kleines Kind, um das man sich kümmern muß.«
»Und Sie sind noch so jung«, sagte ich. Es war mir einfach so herausgerutscht. Er lachte.
»Für wie alt halten Sie mich?«
»Ich weiß es nicht… zwanzig.«
»Dreiundzwanzig.«
Dreiundzwanzig, dachte ich. Mama war viel älter als er, obwohl man ihr das nicht ansah.
»Kommen Sie, lassen Sie uns am Strand entlang schlendern und dem Rauschen des Ozeans lauschen. Wir dürfen nicht zu früh ins Haus zurückkommen und die Künstlerin bei der Arbeit stören. Sie wissen ja, wie Künstler sind – empfindsam und launisch«, sagte er und lachte.
Wir
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