Dunkle Umarmung
Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken, als er den Verschluß aus der Nähe musterte.
»Diese Dinger sind so winzig. Da, jetzt habe ich es.« Er stellte sich wieder neben Mama, und sie sahen sich den Anhänger an, der mir genau zwischen die Brüste fiel.
Mama schien tief in Gedanken zu sein.
»Gut.« Tony klatschte in die Hände. »So, dann können wir ja weitergehen und uns die Ställe ansehen, damit Sie sehen, was Sie tun können, wenn Sie erst Reitkleidung haben.«
Als wir die Ställe erreicht hatten, rief Troy nach Curly. Er war ein kleiner, stämmiger Schotte, der stark gelocktes rotes Haar hatte. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfzig Jahre. Auf jeder seiner Pausbacken waren zwei leuchtendrote Flecken, die so auffällig waren, als hätte er sich wie ein Clown geschminkt.
»Du willst doch bestimmt nach Sniffles sehen«, sagte er und ging voraus.
Curly öffnete die Box, und ich sah mir das schwarzweiße Shetlandpony an. Das Tier war so bezaubernd, daß ich mich auf den ersten Blick in es verliebte. Troy hielt ihm eine Handvoll Heu hin, und es fraß, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Wenn Sie wollen, können Sie sie streicheln, Miß.«
»Ja, gern. Danke.« Ich streichelte das Pferdchen und dachte wieder einmal, was für ein verzauberter Ort Farthinggale Manor doch war. Ich fing an zu verstehen, warum Mama so hingerissen war.
»Kommst du morgen wieder und reitest mein Pony?« fragte Troy.
»Vielleicht nicht morgen, Troy, aber bald.«
Wieder schien er enttäuscht zu sein. Oh, wie dringend er doch eine Mutter gebraucht hätte, jemanden, der ihn sanft und liebevoll behandeln konnte. Tony war sicherlich ein guter Bruder, aber er konnte ihm nicht die tröstliche Geborgenheit geben, die ihm eine Mutter hätte geben können. Ich wünschte, wir hätten ihn nach Hause mitnehmen können. Ich hatte mir schon immer einen kleinen Bruder gewünscht.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Mama und Tony sich uns vor den Ställen wieder anschlossen. Ich wollte mich schon auf den Rückweg machen und sie suchen. Als sie zu uns stießen, erklärte Tony, daß es an der Zeit war, sich ans Mittagessen zu machen. Mama hatte beschlossen, zwei Stunden an den Wandgemälden zu arbeiten, nachdem wir gegessen hatten.
Tony wollte mich und Troy an den Strand bringen. Tony sah, daß ich enttäuscht war. Ich hatte mir gewünscht, Mama bei der Arbeit zusehen zu können.
»Ich werde Ihnen all meine Lieblingsplätze am Strand zeigen«, versprach Tony. »Ich liebe das Meer.« Sein Ausdruck wurde finsterer. »Es ist voller Zauber und Geheimnisse und wandelt sich täglich.«
»Mein Vater liebt das Meer auch«, sagte ich.
»Ja, ich bin sicher, daß er es liebt. Aber ich bin froh, daß ich mit meinem Lebensunterhalt nicht vom Meer abhängig bin«, fügte er hinzu. »Das Meer kann so launisch sein wie eine Frau.« Es erstaunte mich, daß Mama darüber lachte. Wenn Daddy das gesagt hätte, wäre sie bestimmt wütend geworden.
Aber es schien ganz gleich zu sein, was Tony Tatterton sagte oder tat – sie fand alles wunderbar. »Schön, mächtig und verschlingend und keineswegs vertrauenswürdig«, fuhr er fort, und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen vorzudringen schien. »Aber es gibt nichts Reizvolleres. Abgesehen natürlich von Ihrer Mutter«, fügte er hinzu und sah Mama an. Ich drehte mich eilig um, weil ich ihre Reaktion sehen wollte, doch anstelle von Verlegenheit breitete sich Stolz auf ihrem Gesicht aus.
Sollte es einer Frau nicht peinlich sein, wenn sie verheiratet ist und ihr ein anderer Mann solche Komplimente macht?
fragte ich mich.
Es war ja so viel einfacher, ein kleines Mädchen zu sein.
3. KAPITEL
EIN GANZ PRIVATER ORT
Das Essen war so ausgezeichnet, wie Ryse Williams es vorhergesagt hatte, und Tony sorgte für eine festliche Stimmung. Plötzlich waren wir von Bediensteten umgeben –
zwei Kellnern und einem Dienstmädchen. Ich fühlte mich, als wären wir in einem eleganten Restaurant.
Der Tisch war mit einem edlen Geschirr gedeckt, und Tony erklärte, er hätte es von seinen Großeltern geerbt. Wir saßen an einem Ende des riesigen Tisches, Troy und ich links von Tony, Mama zu seiner Rechten. Zu jedem Gedeck gehörte ein Weinkelch, sogar zu Troys. Tony zwinkerte mir zu, als er ein paar Tropfen in das Glas seines Bruders goß. Troy benahm sich wie ein Erwachsener und zeigte keinerlei Erstaunen.
Daran, wie er Tonys kleinste Bewegung beobachtete, erkannte ich,
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