Dunkle Visionen
kaufen sollten. Madison runzelte leicht die Stirn. Sie fing wieder an, sich Sorgen um Kaila zu machen. Ihre Schwester wirkte nervös. Sie schaute sich dauernd über die Schulter, als erwarte sie … ja, was eigentlich?
„Vorsicht!“ hörte sie plötzlich jemanden schreien. „Passt auf!“
Sie drehte sich um und sah, dass Rafe, Trent und Kyle vorsichtig einen Springbrunnen aus Metall, der griechische Göttinnen in einem Garten darstellte, hochhievten. Künstler und Käufer gaben zusammen mit Roger besorgt ihre Anweisungen.
„He, Jassy!“
„Was ist?“
„Übernimm mal die Kinder, ja?“
„Klar.“
Madison stand auf und schlenderte in den vorderen Teil der Galerie, um den Fortgang der Dinge zu beobachten. „He! Passt auf Athena auf!“ warnte sie.
„Danke!“ sagte Trent und verzog das Gesicht.
„Schon gesehen“, versicherte Rafe ihr.
Kyle hob eine Braue und schaute sie an.
Sie lächelte, folgte ihnen zur Tür, dann lehnte sie sich gegen den Türstock, während sie zuschaute, wie die drei Männer sich abmühten, das Kunstwerk auf die Ladefläche des Trucks seines neuen Besitzers zu hieven.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Es war Spätfrühling, aber die letzten paar Tage waren heiß wie die Hölle gewesen, und die leichte Brise, die zur Tür hereinwehte, war herrlich. Madison öffnete die Augen und schaute sich draußen um. Die Galerie lag nur ein kleines Stück entfernt von Cocowalk und Mayfair, zwei einander sehr ähnlichen Einkaufsstraßen. Es gab eine Menge ausgefallene Geschäfte in der Gegend, in der man die ungewöhnlichsten Sachen kaufen konnte. Das Viertel um den Coconut Grove herum war bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Rogers Galerie würde bestimmt gut laufen.
„Du!“
Sie schenkte der Stimme anfangs keine Aufmerksamkeit, so beschäftigt war sie, die kühle Brise zu genießen. Und auf dem Coconut Grove gab es immerhin eine Menge Verrückte, die meisten von ihnen waren harmlos.
„Du!“
Jetzt drehte sie sich um und starrte – sprachlos und ungläubig.
Das war Harry Nore. Mit blutunterlaufenen Augen, die wilde graue Mähne total verfilzt, das Gesicht von einem zotteligen Bart zur Hälfte verdeckt. Er sah so irre aus wie vor all diesen Jahren, als er sich nach seiner Festnahme vor laufenden Fernsehkameras mit dem Mord an Lainie gebrüstet hatte. Trotz der Hitze trug er einen mit Schmutzflecken übersäten, zerknitterten beigen Trenchcoat. Und er zeigte auf sie – mit dem scharfen Ende einer Rasierklinge.
„Du! Teufelin, Miststück, Satansbrut, Verführerin der Unschuldigen! Du bist aus der finstersten Hölle zurückgekommen. Von den Toten auferstanden wie der Satan höchstpersönlich, aber der Satan nimmt dich wieder mit zurück in die Hölle, und dort wirst du dann im Höllenfeuer schmoren. Du wirst bei lebendigem Leib verbrennen! Verbrennen!“
Das letzte Wort war ein kaum verständliches Kreischen, und dann stürzte er sich auf Madison. Sie sprang zurück und prallte gegen den Türstock. Er machte erneut einen Satz auf sie zu, der sie zwang, weiter seitlich auszuweichen. Sie hörte ein Krachen. Sie war gegen das große Schaufenster der Galerie geprallt, und jetzt verlor sie das Gleichgewicht und taumelte. Sie durfte nicht fallen, sie durfte sich nicht noch verletzlicher machen, als sie ohnehin war, aber sie schaffte es trotzdem nicht, ihre Balance zu halten. Sie musste sich wehren, musste zumindest von ihm wegkriechen, so schnell sie konnte.
Doch in dem Moment, in dem sie den Blick hob und in Nores gespenstisch verzerrtes Gesicht schaute und ihn so nah vor sich sah, dass sie jeden einzelnen verfaulten Zahn zählen konnte, hörte sie erneut ein Krachen.
Kyle hatte ihn zu Boden geschlagen.
Dann brach die Hölle los. Trent stürzte sich auf Nore und hielt ihn nieder, während die Leute aus der Galerie herausgerannt kamen.
Plötzlich war Rafe an Madisons Seite. „Ist alles okay mit dir?“
Sie nickte, ihr Mund und ihre Kehle waren staubtrocken. Jassy war ebenfalls da und kniete sich neben sie hin.
Madison griff nach der Hand ihrer Schwester. „Geh zu Dan. Sag ihm, dass er mit Kaila und den Kindern hinten bleiben soll. Bitte, ich will nicht, dass Carrie Anne irgendetwas sieht, sie bekommt sonst Angst, bitte …“
„Bleib bei ihr“, sagte Rafe zu Jassy. „Ich will nur rasch Dan und Kaila bitten, dass sie heute Nacht Carrie Anne mit zu sich nach Hause nehmen. Die Polizei muss jeden Moment eintreffen. Du wirst mit ihnen reden müssen,
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