Dunkle Visionen
Besonders in Anbetracht der jüngsten Vorfälle in Dade.
Madison wusste auf der Heimfahrt nichts zu sagen, und als sie wieder bei ihrem Vater waren, ging sie sofort mit Carrie Anne ins Haus, um zu duschen, und anschließend schaffte sie es sogar, ihre Tochter zu einem kleinen Nickerchen zu überreden. Nachdem sie Carrie Anne ins Bett gebracht hatte, zog sie leise die Tür hinter sich ins Schloss. Dann eilte sie den Flur hinunter.
Die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters war zu. Wenn er absolut durch nichts und niemanden gestört werden wollte, es sei denn, es ginge um Leben und Tod oder der Himmel drohte einzustürzen, pinnte er das Bild eines gefährlich dreinschauenden Bären an seine Tür.
Das Bild hing dort.
Madison schaute in den Innenhof und sah, dass Kyle sich mit dem Gesicht nach unten auf eine der Liegen gelegt hatte. Seine Badehose war nass, er war also im Pool gewesen. Sie ging durch die Glastüren zu ihm hin und ließ sich auf der Liege nieder, die neben der seinen stand.
Er drehte sich sofort herum.
Die Sonnenbrille war wieder an Ort und Stelle.
Er setzte sich auf und schaute sie an. „Ist Carrie Anne okay?“ „Natürlich.“
„Weiß sie, was wir gefunden haben?“
„Nein, Genaues weiß sie natürlich nicht, aber sie ahnt etwas. Ich habe ihr erzählt, dass es wahrscheinlich einen Unfall gegeben hat.“
Kyle wich ihrem Blick aus und nickte. „Ja, einen Unfall. Das ist gut.“
„Kyle, bitte sag mir, warum bist du hier? Im letzten Jahr hatten wir in Miami einige bizarre Morde. Es gab den Typen, der hinter den Prostituierten auf der achten Straße her war, und den Mann, der Obdachlose umgebracht und dann angezündet hat. Und …“
„Und die Polizei hat diese Fälle aufgeklärt“, sagte er. „Aber leicht war es nicht.“ Er zögerte. „Die Ermittlungen in solchen Fällen gestalten sich meist schwierig, weil angeblich niemand etwas gesehen hat. Und wer interessiert sich schon für einen ermordeten Obdachlosen, außer den übrigen anderen Obdachlosen – und einigen engagierten Sozialarbeitern, die auf der Straße arbeiten und sich daran erinnern, dass die Obdachlosen Menschen sind wie wir anderen auch. Und was die Prostituierten anbelangt …“ Er hob die Hände. „Die Leute neigen dazu zu denken, dass Zuhälter und Prostituierte nur das bekommen, was sie verdienen.“
„Niemand verdient es, ermordet zu werden“, widersprach Madison empört.
Er hob eine Augenbraue. „Auch nicht durch das Gesetz?“
„Ich weiß nicht, was du damit sagen willst.“
Er schüttelte, plötzlich angewidert, den Kopf. „Ich schätze, ich habe nur gerade ein Stadium erreicht, wo ich mir nicht immer ganz sicher bin, was richtig und was falsch ist. Als ich das letzte Mal gerufen wurde, war es in Massachusetts. Der Täter, mit dem ich es dort zu tun hatte, hatte schon einmal wegen Kindesmissbrauch und Mord im Gefängnis gesessen, man hatte ihn zu zweimal fünfzehn Jahren verurteilt. Sein Benehmen im Gefängnis war vorbildlich. Er saß einige Jahre ab, man steckte ihn in verschiedene Spezialprogramme … und dann bekam er irgendwann Wochenendurlaub. In zwei Tagen tötete er zwei Jungen und ein kleines Mädchen. Wie kann man einen solchen Menschen jemals aus dem Gefängnis entlassen?“
„Willst du damit sagen, dass das alles nicht passiert wäre, wenn er die Todesstrafe bekommen hätte?“
Er schüttelte den Kopf und schaute für einen Moment in die untergehende Sonne. „Was ist, wenn ein unschuldiger Mensch hingerichtet wird? Man kann ihn nicht wieder ausgraben und sich entschuldigen.“
„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet“, wandte Madison sanft ein. „Was machst du hier?“
„Oh, ich …“
Sie sprach sehr überlegt. „Diese Morde sind aufgeklärt. Und von einem anderen noch frei herumlaufenden Serienkiller habe ich nichts gehört.“
Er zuckte die Schultern. „Weil bis jetzt niemand genau weiß, was eigentlich vorgeht, mit der Ausnahme, dass es ein paar sichere Hinweise gibt, die auf einen Serienkiller hindeuten.“
„Was für Hinweise denn?“
„Madison, du kannst wirklich nicht wollen …“
„Kyle!“ sagte sie scharf, dann zögerte sie, noch immer nicht gewillt, ihm von der Vision, die sie unter Wasser gehabt hatte, zu erzählen. „Ich kann vielleicht angesichts dieses abgetrennten Arms nicht so viel Begeisterung aufbringen wie Jassy, aber ich würde es dennoch begrüßen zu erfahren, was hier vor sich geht“, sagte sie entschieden. „Ich lebe allein mit meiner
Weitere Kostenlose Bücher