Dunkle Visionen
Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, doch dann sprangen sie sich auch schon wieder gegenseitig an die Kehle. Und doch hatte er Recht, mehr war es für sie tatsächlich nicht.
Zu dumm, dass sie überhaupt darüber gesprochen hatten.
Wenn sie ihn doch bloß … berühren könnte. Sie wünschte es sich so sehr. Sie wollte seine Muskeln spüren, seine Lippen auf ihrer Haut. Es war schon lange her, seit …
Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, während sie sich daran erinnerte, was Sheila am vergangenen Abend im Haus ihres Vaters über ihren, Madisons, Wunsch, mit Kyle zu schlafen, gesagt hatte.
Wie schrecklich.
Aber es stimmte.
Reiß dich zusammen, Madison! warnte sie sich. Sie lehnte sich zurück. „Kyle, du bist wirklich ein Drecks…“
Glücklicherweise kam in diesem Augenblick die Kellnerin mit der Rechnung. Sie war eine redselige junge Frau, die sich über das Wetter ausließ – über die dunklen Gewitterwolken, die sich im Osten zusammenbrauten. „Aber im Frühling ist das hier eben so“, verkündete sie vergnügt. „Am Morgen noch strahlendster Sonnenschein, und am Nachmittag ist es schlagartig finsterste Nacht, die Blitze zucken über den Himmel, und es schüttet wie aus Kübeln. Doch nach dem Regen ist es nirgends so schön wie in Florida.“
„Ja, es ist herrlich“, pflichtete Kyle ihr bei.
„Ich meine, hier passieren schon manchmal schlimme Sachen, aber die passieren anderswo schließlich auch, oder?“ fuhr das Mädchen, noch immer lächelnd, fort.
„Auf jeden Fall“, stimmte Madison zu.
„Das Gewitter wird bald runterkommen“, bemerkte Kyle.
„Sie können es von hier aus beobachten“, sagte die Kellnerin.
Mit leicht schaukelnden Hüften entfernte sie sich vom Tisch. Ein sympathisches Mädchen, freundlich und lebenslustig.
Wie die Opfer des Mörders, dachte Madison plötzlich.
Sie schaute von den Überresten auf ihrem Teller zu Kyle, und ihr wurde klar, dass er dasselbe gedacht hatte.
„Hast du vor, sie zu warnen?“ fragte Madison.
Kyle schien nicht überrascht oder unangenehm berührt, dass sie seine Gedanken gelesen hatte.
„Vielleicht. Ich denke, wenn wir gehen, werde ich ihr raten, dass sie nirgendwo hingeht, ohne zu hinterlassen, wo und mit wem sie unterwegs ist.“ Er schaute auf Madison. „Dasselbe gilt für dich. Geh niemals weg, ohne jemandem Bescheid zu sagen, wo du dich aufhältst.“
„Kyle, ich bin kein Idiot!“
„Verdammt, Madison, sei nicht so eine Mimose. Ich dachte, wir hätten das Kriegsbeil begraben.“
„Ich bin keine Mimose. Und selbst wenn wir das Kriegsbeil begraben haben, gedenke ich mein Leben dennoch genauso weiterzuleben wie …“
Er schnaubte ungehalten. „Bitte! Madison, ich mache mir Sorgen um dich.“
„Tja, weißt du, Kyle“, sagte sie ruhig, „es gab mal eine Zeit, da habe ich mir um dich auch Sorgen gemacht, aber du warst erwachsen, und mir blieb nichts anderes übrig, als die Tatsache zu akzeptieren, dass du mich offensichtlich nicht um dich haben wolltest. Und ich bin jetzt auch erwachsen, Kyle. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.“
Er stand so plötzlich auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Er bekam ihn gerade noch zu fassen und stieß ihn heftig unter den Tisch.
Er fing die Kellnerin ab und beglich die Rechnung. Madison beobachtete, wie er charmant, aber eindringlich auf die junge Frau einredete.
Sie schien ganz bezaubert von seinem Charme, doch sie war ein freundliches Mädchen, deshalb drehte sie sich jetzt nach Madison um, lächelte ihr zu und winkte zum Abschied.
Sie hielt sie offensichtlich für ein Paar.
Sie verließen das Restaurant und fuhren, bis auf ein paar Wegerklärungen, schweigend zu Carrie Annes Schule.
Auf der Heimfahrt hüllte sich Madison ebenfalls in Schweigen, während Carrie Anne unablässig über das, was sie im Unterricht gelernt hatte, plapperte.
Kyle war gut zu ihr. Er wusste, wie man mit Kindern umgehen musste. Er schien an ihren schulischen Erfolgen ebenso interessiert wie an irgendeiner kriminaltechnischen Untersuchung.
Er setzte die beiden zu Hause ab, lehnte es jedoch ab, mit hineinzukommen, als Madison ihm noch eine Tasse Kaffee anbot. Auch von Carrie Annes aufgeregtem Drängen ließ er sich nicht erweichen.
„Ich muss wieder an die Arbeit“, erklärte er dem Mädchen und schnitt eine Grimasse. „Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag hier. Ich muss brav sein.“
„Och, wenigstens eine Minute“, bettelte Carrie Anne.
Er schüttelte
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