Dunkle Visionen
nach Miami zur Arbeit.“
„Ruf dir ein Taxi.“
„Hier draußen? Mitten auf den Keys soll ich mir ein Taxi rufen, das mich nach Miami bringt?“
„Ruf dir ein Taxi – ruf das verdammte FBI an. Es ist mir egal. Geh raus aus meinem Auto.“
„Warum?“
Sie starrte ihn ungläubig an. „Weil du das Letzte bist und gemein und …“
„Weil ich Angst um dich habe“, unterbrach er sie mit einer Stimme, die so tief und heiser war, dass sie ihn erstaunt anschaute. Er zerquetschte seinen leeren Pappbecher und umklammerte ihn so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
„Kyle …“
Der zerknüllte Becher fiel unbemerkt zu Boden, er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und schaute ihr tief in die Augen. „Zur Zeit wird in der Mitte eines jeden Monats eine rothaarige Frau ermordet, und du verfügst über hellseherische Kräfte – ob dir das nun passt oder nicht. Du siehst die Opfer. Die Polizei hat mittlerweile ein paar Spuren. Nur ein paar wenige. Aber vielleicht genug, um den Killer nervös zu machen. Ich möchte nicht, dass du in deinem Haus allein bist. Wir müssen nicht miteinander schlafen, aber ich will dich unter keinen Umständen allein lassen. Ich kann auf eurer Couch schlafen, und wir können Carrie Anne erklären, dass ich Polizist bin wie Jimmy und dass ich hergekommen bin, um auf euch aufzupassen. Irgendwelche Einwände?“
Madison versuchte, den Kopf zu schütteln. „Nein, vermutlich nicht. Und jetzt kannst du mich wieder loslassen.“
Er nahm seine Hände weg und lehnte sich in seinen Sitz zurück. „Können wir weiterfahren?“ erkundigte er sich höflich.
Die Weiterfahrt verlief in eisigem Schweigen. Aber fünfzehn Minuten später kamen sie am
Theater of the Sea
vorbei, einem neu erbauten, großen Freizeitpark, in dem man mit Delphinen schwimmen konnte.
„Das wollte ich schon immer mal machen“, bemerkte Madison.
„Ins
Theater of the Sea
gehen?“ fragte er verdutzt. Sie lachte. „Mit Delphinen schwimmen.“
„Du tauchst doch ständig. Da begegnet man bestimmt allem Möglichen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Einem Delphin bin ich noch nie begegnet. Nie.“
„Wenn du es tun willst, tu es doch einfach.“
„Tust du immer das, was du tun willst?“
„Ja.“
„Was war das Letzte, was du unbedingt tun wolltest?“ forschte sie.
Er grinste. „Mit dir schlafen.“
Jetzt musste sie auch lächeln. „Oh“, sagte sie leichthin. Dann merkte sie, dass er sie erneut ernst anschaute.
„Madison.“
„Was?“
„Wann genau wurde deine Mutter ermordet?“
Sie fühlte sich plötzlich seltsam angespannt. „Am fünfzehnten Juni.“
„Richtig. In der Mitte des Monats.“
„Das muss ein Zufall sein.“
„Muss es das?“
Killer hätte besser die Dunkelheit abwarten sollen.
Aber das Risiko war zu groß. Und die Herausforderung reizte ihn.
Das Tattoostudio öffnete nicht vor zehn.
Jetzt war es 9:03. Er streifte sich die Handschuhe über. Dünne Plastikhandschuhe, wie Ärzte sie tragen.
Er parkte auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt ein Stück weiter unten und ging dann mit den Händen in den Hosentaschen zu Fuß zu dem Tätowierstudio. Seine Augen wurden von einer großen, dunklen Sonnenbrille verdeckt.
Die Vordertür war abgeschlossen.
Er ging um das Haus herum nach hinten und probierte die Hintertür. Sie war offen. Er trat ein.
Die gute alte Tammy mit ihrem grell gefärbten Haar und dem nachlässig geschminkten Gesicht saß an ihrem Schreibtisch im Hinterzimmer und ging ihre Rechnungen durch. Als er hereinkam, schaute sie auf.
„Wir haben noch zu“, sagte sie.
Er ließ einen verächtlichen Blick über sie hinwegwandern. Widerliche Schlampe. Er verabscheute es, seine Zeit und sein Talent an sie verschwenden zu müssen. Aber Holly hatte ein Foto von ihm gemacht. Die Polizei hatte ihr Haus durchsucht. Aber es war hier. Hier bei dieser alten Schlampe. Holly
musste
es hier irgendwo verloren haben.
„Hi, Tammy.“
„Kennen wir uns?“
„Ich kenne Sie. Und ich weiß, dass Sie noch nicht geöffnet haben, aber … ja also … ich habe Sie schon öfter gesehen. Ich musste einfach einen Weg finden … allein mit Ihnen zu sprechen.“
„Allein?“
Er nickte. „Ja, es ist nämlich so, ich wollte Sie um einen Gefallen bitten“, sagte er, charmant lächelnd, während er die Tür hinter sich zumachte und den Riegel vorschob.
Tammy witterte Morgenluft. Sie erhob sich und kam mit einem koketten Lächeln und wackelnden Hüften auf ihn zu. „Soso, Süßer, dann
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