Dunkle Wasser
ich hörte, wie die Bettfedern quietschten, als sie sich aufs Bett warf und wieder weinte.
Als Großmutters Geist unsere Hütte verlassen hatte, schien auch alle Liebe, die uns zusammengehalten hatte, mit ihr gegangen zu sein.
6. KAPITEL
BITTERE ERNTE
Eines Nachts, während alle schliefen, schlich ich zu jener Stelle, wo ich den Koffer meiner Mutter versteckt hatte, um ihn zum ersten Mal, seit Großmutter ihn mir gegeben hatte, wieder zu öffnen. Ich zerrte ihn unter alten Schachteln voller Lumpen und Gerümpel hervor. Ich setzte mich hinter Old Smokey, damit Fanny nicht aufwachte und ich ungestört die Puppe hervorholen konnte.
Die geheimnisvolle, wunderschöne Puppenbraut, die für mich meine Mutter darstellte.
Ich hielt das harte Bündel in meinen Armen, und die Erinnerung an jene Winternacht, in der meine Großmutter mir die Puppe gegeben hatte, kehrte zurück. Seither war ich zwar schon oft an den Koffer gegangen, aber ich hatte nie die Puppe ausgepackt. Oft überkam mich der Wunsch, das schöne, von hellen Haaren umrahmte Gesicht, lange zu betrachten, aber ich befürchtete, daß mich dann bei dem Gedanken an meine Mutter, die ein besseres Schicksal verdient hatte, das Mitleid übermannen würde. Großmutters Flüstern hallte wie ein geisterhaftes Echo in meinen Ohren:
»Nu’ mach schon, Kind. Solltest mal den Koffer richtig durchschauen. Wundert mich schon lang, warum du nicht mit der Puppe spielst und die ganzen schönen Kleider nicht tragen magst.«
Ich spürte wieder das dünne Gespinst ihrer weißen Haare, die sanft mein Gesicht kitzelten, und den kalten Wind von damals, als ich die Puppenbraut auspackte. Im Feuerschein starrte ich sie an. Wie schön sie in ihrem kostbaren weißen Spitzenkleid aussah: Es war mit winzigen Knöpfen hochgeschlossen bis zum Kinn. Sie trug einen Schleier sowie weiße, spitzenbesetzte Satinschuhe.
Ihre Unterwäsche war ebenfalls kostbar: Ein winziger Büstenhalter umschloß die kleinen, harten Brüste, und sie hatte einen deutlich sichtbaren Spalt zwischen den Schenkeln, dort wo die meisten Puppen geschlechtslos waren.
Warum war diese Puppe anders und realistischer gemacht?
Dies war das Geheimnis meiner Mutter und ihrer Puppe.
Welche Bedeutung hatte diese Puppe in ihrem Leben gehabt?
Ich würde es eines Tages herausfinden. Ich küßte ihr kleines Gesicht und studierte ganz aus der Nähe ihre kornblumenblauen Augen. Dabei entdeckte ich winzige grüngraue und violette Pünktchen darin, wie sie auch meine Augen aufwiesen. Die Puppe hatte die gleichen Augen wie ich!
Am nächsten Tag in der Frühe – Fanny war bei einer Freundin, und Tom brachte Keith und Unserer-Jane bei, wie man besser angelt – erinnerte ich mich an Großmutters Erzählung, wie Vater nach dem Tod meiner Mutter alles, was ihr gehört hatte, mit dem Beil vernichten wollte und Großmutter den Koffer schnell vor ihm versteckt hatte. Er war meine einzige Verbindung zur Vergangenheit. Vater würde niemals so mit mir reden wie Großmutter. Und Großvater hatte sicherlich das Mädchen, das sein Sohn Engel genannt hatte, nicht einmal bemerkt.
»Ach«, seufzte ich, als Tom hereinkam. »Schau mal her, Tom, Großmutter hat mir erzählt, daß diese Puppe hier meiner Mutter gehört hat. Es ist eine Puppenbraut, die so aussieht wie sie, als sie noch ein Mädchen war und so alt wie ich. Sieh mal, was auf ihrer Fußsohle steht.« Nachdem ich sie bis auf Strümpfe und Schuhe wieder anständig angezogen hatte, hielt ich sie ihm so hin, daß er es lesen konnte: A Tatterton Original Portrait Doll
»Zieh ihr Strümpfe und Schuhe an und versteck sie schnell«, flüsterte Tom. »Fanny kommt grad mit Keith und Unserer-Jane. Für mich hat sie ganz genau dein Gesicht. Fanny soll so was Schönes nicht kaputt machen.«
»Bist du denn gar nicht überrascht?«
»Schon. Aber ich hab’ sie schon vor langer Zeit entdeckt und sie wieder zurückgelegt, wie’s mir Großmutter angewiesen hat… Also schnell, bevor Fanny kommt.«
So schnell ich konnte, zog ich ihr hastig Strümpfe und Schuhe über, wickelte den Koffer gerade noch rechtzeitig in die schmutzige alte Decke ein, und dann erst wischte ich mir die Tränen von den Wangen.
»Heulst du immer noch wegen Großmutter?« fragte Fanny, die es fertigbrachte, eine Sekunde zu trauern und in der nächsten zu lachen. »Geht ihr bestimmt besser jetzt, als hier den ganzen Tag rumzusitzen, Schmerzen zu haben und zu jammern. Überall ist es besser als hier.«
Meine Puppe half mir
Weitere Kostenlose Bücher