Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Roman
das war gemein von mir.«
»Soll ich dir etwas vorlesen, Mutter?«
»Ja, lies mir was vor, Franco …« In genau diesem Moment hätte er gern geweint. Er hatte nicht geweint, als seine Mutter wenig später starb, und auch nicht, als er den ersten Klumpen Erde auf ihr Grab geworfen hatte. Nur in diesem einen Moment hatte er den Wunsch gehabt zu weinen. Aber er hatte gelächelt, war aufgestanden und hatte nach einem Buch gesucht, das er seiner Mutter vorlesen konnte. Er hatte eine uralte, stockfleckige Ausgabe von D’Annunzios Alcyone gefunden. In Erinnerung an seine Schulzeit hatte er das Gedicht vom Regen im Pinienhain gelesen und die feine, aber sinnentleerte Musikalität der Verse genossen. Hörst du? Der Regen fällt auf jenes verlassene Grün, plätschert endlos Tropfen für Tropfen durch die Luft, je nach der Dichte des ihn umgebenden Laubes … Während er vorlas, war seine Mutter gestorben. Mit einem Lächeln auf den Lippen und sanft geschlossenen Lidern, begleitet von den Versen D’Annunzios. Ihre Hände auf der Decke wirkten noch so lebendig, als schliefe sie nur. Er hatte ein Gefühl von unendlicher Leere gespürt, aber auch von Befreiung, Schuld und Erstaunen, eine süße, beängstigende Mischung. Er betrachtete seine Mutter und erwartete, dass sie jeden Moment die Augen aufschlagen und mit ihm sprechen würde, obwohl er wusste, dass sie tot war. Er hoffte, dass sie ihn nach dem Krieg fragen würde, fragen würde, was der Krieg für ihn bedeutet hatte. Er hätte sich die Frage seiner Mutter angehört und ihr bei der Antwort direkt in die Augen geschaut. Er hätte ihr gesagt: Mutter, dass die, die den Krieg miterlebt haben, die im Krieg getötet haben, ihr ganzes Leben lang zerfetzte Leiber vor sich sehen, von Kugeln getroffene Köpfe, abgerissene Beine und Arme, Kinder, die von Trümmern erschlagen wurden, vergewaltigte Frauen, aufgerissene Augen. Für sie ist jede Fahne blutgetränkt, auch die des Sieges, der Freiheit. Die, die im Krieg getötet haben, sehen die Leute auf der Straße, die Frauen, Männer und Kinder, Junge und Alte, und sehen in ihnen lebendige Tote, sterbende Menschen, Menschen, die getötet, zertrampelt, durchbohrt werden. Sie versuchen, nicht darüber nachzudenken, sie versuchen, strahlende Frauen, fröhliche Kinder und lächelnde Männer zu sehen, aber sie erkennen bloß den Tod, der diese Fröhlichkeit, dieses Lächeln hervorgebracht hat. Sie können nicht vergessen, was sie gesehen haben. Ihr ganzes Leben lang werden sie immer die Toten aus dem Krieg vor Augen haben, die, die sie getötet haben, und ihre gefallenen Kameraden, ohne Unterschied, und es gibt keine Fahnen, keine Vaterlandsliebe, keine Orden, keine offiziellen Reden, keine feierlichen Gedenkfeiern, die diese Erinnerung auslöschen könnten. Wenn man im Krieg tötet, verfolgt einen das ein Leben lang wie ein Fluch. Töten im Krieg ist normal, wenn du im Krieg tötest, hast du getan, was du tun musstest, und genau deswegen kannst du es nicht vergessen. Mutter, das hätte ich dir erzählt, aber du bist vorher gestorben. Du bist gut zu mir gewesen, du bist gestorben, ehe ich dir das sagen konnte. Solange du gelebt hast, hatte ich Angst, dass ich früher oder später einmal schwach werden und dir all das erzählen würde, aber jetzt bist du tot, und ich habe keine Angst mehr. Du bist gut zu mir gewesen, Mutter.
Er hatte das Licht gut eine Stunde zuvor ausgemacht, dennoch konnte er nicht einschlafen. Sogar die Luft lastete drückend auf ihm. Das Rauschen des Regens, der den ganzen Tag nicht aufgehört hatte und in der Straße peitschte, leistete ihm Gesellschaft.
Zum Abendessen hatte er endlich das Steak von Panerai verzehrt, das der unübertreffliche Totò ihm gebraten hatte. Ein Steak so groß wie eine Langspielplatte und mindestens vier Finger dick. Er hatte beinahe ein ganze Korbflasche Wein dazu getrunken. Dann hatte er mit Totò noch bis ein Uhr in der Nacht bei einer Flasche Grappa gesessen und sich mit ihm unterhalten.
Zu Hause hatte er sich alte Familienfotos angesehen und weitergetrunken. Ohne es zu merken, hatte er bei seiner Reise in die Vergangenheit die ganze Flasche geleert. Warum also versank er jetzt nicht in Tiefschlaf?
Um sich abzulenken, stellte er sich vor, dass die schöne Ver käuferin neben ihm lag. Er dachte sich sogar eine ganze Geschichte dazu aus. Sie hatten sich gerade zum vierten Mal geliebt … Danach war sie fest eingeschlafen und atmete leise, so leise, dass man es kaum hörte Sie lag
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