Dunkler Fremder
trat vor die
Staffelei mit dem Bild der unvollendeten Landschaft. Nach einer Weile
fragte sie mit seltsam fremd klingender Stimme: »Sagen Sie mir
eines: Was wurde aus Ihrem Regiment bei diesem Angriff?«
Shane neigte sich vor und kraulte mit der rechten Hand
sanft den Hund am Ohr. »Das habe ich erst gestern erfahren, als
ich im Kriegsministerium anrief. Der Angriff war ein völliger
Fehlschlag. Wir erlitten gewaltige Verluste, über zweihundert
Tote.«
Sie griff nach Pinsel und Palette und begann
mechanisch an dem Bild zu arbeiten. »Haben Sie irgend jemandem im
Kriegsministerium das mitgeteilt, was Sie mir gerade erzählt
haben?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist zu lange
her. Was sollte man jetzt noch tun können, selbst wenn man wollte?
Ich erfuhr, daß die vier anderen davongekommen waren und alle
noch leben. In Burnham. Der Archivar im Ministerium war sehr
hilfsbereit. Aus irgendeinem Grund schien er die Vorstellung zu haben,
ich wolle eine Zusammenkunft organisieren, ein Veteranentreffen.«
Sie schien sich mit besonderer Aufmerksamkeit auf ein
bestimmtes Detail ihres Bildes zu konzentrieren und fragte tonlos:
»Und ist das Ihre Absicht?«
Shane durchquerte das Zimmer, blieb hinter ihr stehen
und betrachtete das Bild. »Ich will wissen, wer vor sieben Jahren
bei Colonel Li geplaudert hat«, antwortete er mit leicht bebender
Stimme. »Ich bin davon wie besessen, daß ich nicht davon
ablassen kann. Ich weiß, daß ich es nicht gewesen bin, und
Graham kann es auch nicht gewesen sein, weil er die ganze Zeit
über bei mir in der Zelle war. Danach bleiben Crowther, Wilby und
Reggie Steele.«
Sie legte Pinsel und Palette mit einer heftigen
Bewegung hin und drehte sich aufgebracht mit funkelnden Augen zu ihm
um. »Und was wollen Sie tun, wenn Sie es herausgefunden
haben?« fragte sie angriffslustig. »Was soll denn das nach
all den vielen Jahren noch nützen?«
Er wollte sich wortlos abwenden, aber sie packte ihn
am Aufschlag seiner Jacke, um ihn festzuhalten. Dabei stieß sie
mit der Hand gegen den Griff der Pistole in seiner Innentasche. Mit
einem scharfen Zischen atmete sie aus. Einen Augenblick lang blickte
sie ihm mit verstörten Augen ins Gesicht, dann griff sie unter
sein Jackett und zog die Luger heraus. »Sie Narr«, sagte
sie erregt. »Sie dummer, hoffnungsloser Narr. Was soll dabei
herauskommen? Bringt es auch nur einen dieser Männer ins Leben
zurück? Kann es Simon noch helfen?«
Er nahm ihr die Waffe behutsam aus den Händen und
schob sie wieder in seine Tasche zurück. Während er seinen
Trenchcoat zuknöpfte, sagte er mit ruhiger Stimme: »Nehmen
wir einfach an, ich täte es um meiner selbst willen, und belassen
wir es dabei.«
Mit ineinander verkrampften Händen wendete sie
sich von ihm ab. »Welches Recht haben Sie, sich in dieser Weise
in unser aller Leben einzumischen?« fragte sie eindringlich.
»Das ist doch eine alte Geschichte, seit langem tot und begraben.
Warum können Sie sich nicht damit abfinden?«
Er ignorierte ihren Ausbruch, wandte sich um und ging
auf die Tür zu. Als er nach der Klinke griff, schrie sie wild auf:
»Man wird Sie dafür hängen! Ist Ihnen das nicht
bewußt?«
Ein eigenartig entrücktes Lächeln trat auf
sein Gesicht. »Tut mir leid, daß ich Sie da
enttäuschen muß, aber ich fürchte, dafür werde ich
nicht mehr zur Verfügung stehen.«
Etwas in seiner Stimme, der entschlossene Ton, der in
ihr lag, ließ sie unwillkürlich schaudern. »Was wollen
Sie damit sagen?«
»Ich meine, daß ich bald nicht mehr am
Leben sein werde, Miß Faulkner«, erwiderte er kalt, und
seine Stimme hatte einen harten, endgültigen Klang.
Als er die Tür öffnete, lief sie ihm nach
und hielt ihn am Arm zurück. »Was meinen Sie damit?«
fragte sie eindringlich.
Er hob die Schultern. »Bei diesem Sturz auf der
Treppe geschah mehr, als daß ich nur mein Gedächtnis
wiederfand. Der Splitter in meinem Gehirn wurde in einen
gefährlichen Bereich verlagert. Das bedeutet, daß ein
Versuch, ihn zu entfernen, für mich lebenswichtig ist. Heute in
einer Woche habe ich einen Termin bei einem Gehirnchirurgen in Guys
Hospital. Wenn ich diesen Termin nicht einhalte, bin ich innerhalb von
vierzehn Tagen tot, und die Chancen für einen Erfolg stehen
für mich hundert zu eins. Dazwischen kann ich wählen.«
Er trat auf die Veranda hinaus, ohne ihre Antwort
abzuwarten, und stieg die Stufen in den Garten hinunter. Laura stand
unter
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