Dunkler Fremder
wissen
wollte.« Er lächelte seltsam. »Wir haben nie erfahren,
wer der Betreffende gewesen ist.«
Einen Augenblick lang sah Crowther ihn mit
ausdruckslosem Gesicht fest an, dann lachte er leichthin auf.
»Nein, das haben wir nie erfahren, nicht wahr?«
Darauf folgte wieder ein kurzes bedrückendes
Schweigen, bis Shane sagte: »Ich weiß, daß ich es
nicht gewesen bin und daß Graham es nicht gewesen sein kann, weil
er zu der Zeit bewußtlos bei mir in der Zelle lag.«
Crowther legte seine Pfeife behutsam beiseite und
lehnte sich in seinem Sessel hinter dem Schreibtisch zurück.
Gelassen entgegnete er: »Willst du damit andeuten, daß ich
es gewesen bin, Shane? Bist du nach all den Jahren hergekommen, um das
festzustellen?«
Shanes Blicke bohrten sich in die Crowthers. »Warst du es?« drängte er.
Plötzlich herrschte eine vibrierende Spannung im
Zimmer, in der die beiden Männer wie am Rand eines Abgrunds
einander gegenübersaßen, doch dann lachte Crowther auf,
beugte sich vor und schnürte seinen rechten Schuh auf, streifte
ihn ab, zog die Socke aus und hob den Fuß, damit Shane ihn
deutlich sehen konnte. Er hatte keine Zehen, nur ein wulstiges
Narbengewebe. »Sieh es dir genau an«, forderte Crowther
Shane auf.
Shane beugte sich vor, sein Gesichtsausdruck verriet nichts. »Wie ist das passiert?« fragte er dann.
Crowther zog Socke und Schuh wieder an. »Auf dem
Marsch mit dieser Gefangenenkolonne nach Norden. Ich habe vergessen zu
erwähnen, daß wir nach China marschieren mußten. Es
dauerte annähernd fünf Monate, und in dem Jahr herrschte ein
harter Winter. Die meisten von uns starben. Ich
hatte Glück. Ich habe nur die Zehen erfroren. Als Gangräne
einsetzte, blieb mir nur eins übrig: ich schnitt mir die Zehen ab,
mit einem Taschenmesser.«
Er schnürte seinen Schuh zu und stand auf. Er
humpelte leicht, als er hinter dem Schreibtisch hervorkam. »Wenn
ich es also gewesen sein sollte, hat es mir nicht sehr viel
eingebracht, oder?« sagte er herausfordernd.
Shane stand auf und streckte seine Hand aus.
»Nein, das kann man nicht behaupten – falls du es
warst.«
Er ging zur Tür, und als er sie öffnete,
rief Crowther hinter ihm her: »Mann, gib das um Himmels willen
auf. Es ist vergangen und vergessen. Wem kann es irgend etwas
nützen, wenn jetzt alles wieder ausgegraben wird?«
Langsam wandte Shane sich noch einmal um. Ein
seltsames Lächeln stand auf seinem Gesicht. »Du bist heute
der Dritte, der mir das sagt. Langsam fange ich an, mich zu fragen,
warum sich jeder darüber so viele Gedanken macht.«
Crowther ließ die Schultern sinken, und etwas,
das an Verzweiflung denken ließ, trat in seine Augen. Sie
blickten sich noch einen Augenblick an, bis Shane zwischen sich und dem
hageren Gesicht dieses Mannes behutsam die Tür schloß.
6
Joe Wilby wohnte in der Gower Street, einer öden
Reihe baufälliger Mietshäuser nahe dem Zentrum der Stadt, die
zu einem abbruchreifen Slumviertel gehörte. Nummer 15 sah aus, als
ob das Haus jeden Augenblick einstürzen würde. Die
Vordertür war mit Brettern vernagelt.
Shane folgte dem Weg zu einem Seitengang, der ihn in
einen mit leeren Konservendosen und Abfällen aller Art
übersäten Hinterhof führte. In einem Hinterfenster war
Licht. Er stieg vier abgetretene Steinstufen hinauf und klopfte.
Schritte näherten sich, die Tür wurde einen
Spaltbreit geöffnet und eine weibliche Stimme fragte: »Wer
ist da?«
»Ich suche Joe Wilby«, antwortete Shane. »Ich bin ein alter Freund von ihm.«
Eine Kette klirrte, und die Tür wurde
geöffnet. »Dann kommen Sie mal rein«, sagte die Frau
und ging ihm durch einen düsteren Korridor voraus.
Shane schloß die Tür hinter sich und folgte
ihr. Der abgestandene Brodem aus Küchendünsten und
menschlichen Ausdünstungen ließ ihn die Nase rümpfen
und unwillkürlich angewidert schaudern. Die Frau öffnete eine
Tür, knipste einen Schalter an und ging voraus in ein Zimmer am
hinteren Ende des Ganges. Es war einigermaßen sauber und
behaglich, mit einem Teppich auf dem Boden und einem Doppelbett an der
hinteren Wand.
Sie wandte sich ihm zu, um ihn zu mustern; eine
große, kräftig gebaute Person, näher an die Vierzig als
an den Dreißig, und einer nicht zu übersehenden Neigung,
dick zu werden. Dennoch ging von ihr eine gewisse ordinäre
Attraktivität aus, und das plötzliche Lächeln auf ihrem
Gesicht verriet Interesse.
»Ich bin
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