Dunkler Grund
war, als würde er jede Facette ihrer Person kennen. Er glaubte zu wissen, was in ihr vorging, aber es stand nicht in seiner Macht, ihr zu helfen.
Oonagh war im Gerichtssaal geblieben. Er sah ihr blondes Haar unter der Borte der dunklen Haube hervorleuchten. Sie wirkte ruhig und gefaßt, als hätte sie Stunden damit verbracht, sich in Selbstbeherrschung zu üben, bevor sie vom Ainslie Place zum Gericht aufgebrochen war. Und jetzt konnte sie nichts mehr erschüttern. Ob sie wußte, wer ihre Mutter getötet hatte? Möglich, daß sie es ahnte, so gut, wie sie ihre Geschwister kannte. Er betrachtete ihr Gesicht, die sanft geschwungenen Augenbrauen, die ruhigen Augen, die lange, gerade Nase, den vollen, beinahe perfekt geformten Mund. Alles makellos, aber insgesamt zu energisch, um wirklich schön zu sein. Ob sie nach Marys Tod das Zepter in der Familie ergriffen hatte? Wollte sie die Ehre der Familie schützen, stellte sie sich vor die Schwäche – oder die Niederträchtigkeiteines ihrer Angehörigen?
Das würde er vielleicht niemals erfahren – selbst wenn er herausfinden sollte, wer der Mörder war.
Wenn?
Kälte kroch in ihm hoch. Unabsichtlich hatte er die Angst benannt, die er seit seiner Ankunft in Edingburh so hartnäckig verleugnete. Er schob den Gedanken von sich.
Es war einer von den Farralines! Es mußte so sein.
Er wandte den Blick von Oonagh zu Alastair, der neben ihr saß und den Stationsvorsteher im Zeugenstand nicht aus den Augen ließ. Er machte einen ruhelosen Eindruck, als wäre diese öffentliche Verhandlung der Tragödie seiner Familie eine unerträgliche Qual für ihn. Monk beobachtete nicht zum erstenmal, daß er sich in solchen Situationen mehr auf seine Schwester als auf seine Frau stützte. Sicher, Deirdra war ebenfalls anwesend, und sie saß auch neben ihm, aber er lehnte sich weiter nach links hinüber, zu Oonagh, und schob die rechte Schulter nach vorne, Deirdra damit ausschließend.
Sie blickte hartnäckig geradeaus, nicht um Alastair mit Mißachtung zu strafen, sondern weil sie interessiert die Verhandlung verfolgte. In ihrem Gesicht mit den sanften Augenbrauen, der Stupsnase und dem energischen Kinn standen weder Sorge noch Angst. Falls ihr etwas von bevorstehenden Tragödien schwante, war sie eine vollendete Schauspielerin.
Kenneth war nicht im Saal. Monk hatte auch nicht damit gerechnet. Man würde ihn als Zeugen aufrufen, also mußte er draußen warten. So wollte es das Gesetz. Eilish saß im Saal, eine schweigende Flamme. Auch Baird, der rechts von Oonagh saß, hatte sich ein wenig abgewandt – nicht demonstrativ, es war eher ein Rückzug in sich selbst. Er sah Eilish nicht an, doch selbst vom anderen Ende des Saals aus konnte Monk erkennen, welche Anstrengung es ihn kostete, es nicht zu tun.
Quinlan Fyffe war nicht anwesend – wahrscheinlich würde man auch ihn in den Zeugenstand rufen.
Der Stationsvorsteher war mit seiner Aussage fertig. Argyll hatte keine Fragen an ihn. Man entließ ihn, und der Arzt, der Mary Farralines Tod festgestellt hatte, trat in den Zeugenstand. Gilfeather war äußerst freundlich zu ihm, versuchte nicht, ihn wegen der falschen Diagnose eines normalen Herzversagens in Verlegenheit zu bringen. Dem Mann war trotzdem nicht wohl in seiner Haut. Seine Antworten blieben einsilbig.
Argyll erhob sich, lächelte ihm zu, und setzte sich wieder, ohne etwas gesagt zu haben.
Es war bereits später Nachmittag. Das Gericht vertagte sich auf den nächsten Morgen.
Monk ging sofort hinaus, um Rathbone nach seinen Eindrücken zu befragen. Er sah ihn auf der Treppe und kam unten an, als er und Argyll gerade in einen Hansom kletterten.
Monk blieb am Randstein zurück und stieß einen heftigen Fluch aus. Ihm war völlig klar, daß Rathbone ihm nichts sagen konnte, was er nicht selber wußte, und doch war er wütend darüber, nicht mit ihm reden zu können. Er blieb eine Weile dort stehen, zu verärgert, um über das nachzudenken, was er als nächstes tun würde.
»Sind Sie hinter Oliver oder hinter dem Wagen hergelaufen, Mr. Monk?«
Er fuhr herum. Ein paar Schritte hinter ihm stand Henry Rathbone. Die Besorgnis und die Aufmerksamkeit in dem freundlichen Gesicht ließen seinen Zorn verfliegen; nur seine eigene Angst blieb übrig, und das Bedürfnis, sie mit jemandem zu teilen.
»Hinter Ihrem Sohn«, antwortete er. »Aber ich fürchte, er hätte mir auch nichts Neues sagen können. Waren Sie bei der Verhandlung? Ich habe Sie nirgends gesehen.«
»Ich war hinter
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