Dunkler Grund
änderte schon gerne eine Entscheidung, die er einmal getroffen hatte? Das wußte Gilfeather so gut wie er. Ein gerissener Hund!
Auch der Richter machte ein schmales, hartes Gesicht. Seine Worte mochten noch von richterlicher Unparteilichkeit zeugen, aber man mußte ihn nur genau ansehen, dann kannte man sein Urteil bereits.
Argyll nahm sehr bald wieder Platz, und Rathbone seufzte erleichtert.
Als nächste Zeugin wurde Griselda Murdoch aufgerufen. Dahinter steckte eine geschickte Taktik. Sie stand kurz vor der Geburt und sah blaß und sehr müde aus. Das Mitgefühl des Publikums war beinahe greifbar, ebenso der Haß auf Hester, der wie ein übler Geruch im Raum hing.
»Mrs. Murdoch«, sagte Gilfeather leise, als spräche er zu einer Kranken oder einem Kind, »wir sind uns durchaus bewußt, daß es sie viel Kraft kostete, hierherzukommen und eine Aussage zu machen. In Ihrem Zustand muß die lange Reise eine gewaltige Anstrengung gewesen sein.«
Ein mitfühlendes Gemurmel erhob sich im Saal, und ein paar Zuschauer gaben ihrer Bewunderung lautstark Ausdruck.
Der Richter ignorierte sie.
»Ich will Sie nicht dazu drängen, über die Gefühle zu reden, die Sie am Bahnhof hatten«, fuhr Gilfeather fort. »Es liegt mir fern, Ihnen unnötigen Kummer zu bereiten. Aber wenn Sie so freundlich wären, dem Gericht mitzuteilen, was passierte, nachdem Sie und Ihr Mann wieder zu Hause waren, als Sie wußten, daß Ihre Frau Mutter tot war. Sie können sich Zeit lassen und in Ruhe über alles nachdenken.«
»Danke, das ist sehr freundlich«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Monk fiel auf, wie unähnlich sie ihren Schwestern war. Sie war weder mutig noch temperamentvoll. Vielleicht war es für einen Mann leichter, mit ihr zusammenzuleben; sie forderte nichts und stellte Nachsicht und Geduld auf keine große Probe, doch zweifellos war sie auch unendlich viel weniger interessant. Sie war unsicher und zeigte eine Neigung zum Selbstmitleid, die Oonagh sicher nicht akzeptieren konnte. Oder spielte sie hier nur eine Rolle, mit der sie das Gericht auf ihre Seite bringen wollte? Wußte sie, wer ihre Mutter getötet hatte? War es nicht sogar möglich, daß sie sich in einem Augenblick des Wahnsinns alle zusammengefunden hatten, um den Mord an Mary Farraline zu begehen?
Nein, das erschien absurd. Seine Phantasie ging mit ihm durch.
Sie erzählte Gilfeather gerade, wie sie Marys Koffer ausgepackt, zwischen den Kleidern die Liste gefunden und festgestellt hatte, daß die graue Perlenbrosche fehlte.
»Ich verstehe.« Gilfeather nickte wissend. »Und Sie hatten erwartet, die Brosche zu finden?«
»Natürlich. Sie stand doch auf der Liste.«
»Und was haben Sie dann getan, Mrs. Murdoch?«
»Ich habe mit meinem Mann gesprochen. Ich habe ihm gesagt, daß die Brosche fehlt, und ihn um seinen Rat gebeten.«
»Und was hat er Ihnen geraten?«
»Nun, zuerst haben wir natürlich alles noch einmal gründlich durchgesucht. Aber sie war wirklich nicht da.«
»Sicher. Wir wissen ja inzwischen, daß Miss Latterly sie hatte. Niemand bestreitet das. Und dann?«
»Nun… Connal, Mr. Murdoch machte sich große Sorgen, daß jemand sie gestohlen haben könnte, und er…« Sie schluckte und brauchte ein paar Sekunden, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Das Gericht wartete in respektvollem Schweigen.
Hinter Argyll stieß Rathbone einen unterdrückten Fluch aus.
»Ja?« ermutigte sie Gilfeather.
»Er hielt es für ratsam, nach unserem eigenen Arzt zu schicken, um seine Meinung zur Todesursache zu hören.«
»Ich verstehe. Und genau das haben Sie getan?«
»Ja.«
»Und wen haben Sie gerufen, Mrs. Murdoch?«
»Dr. Ormorod in der Slingsby Street.«
»Ich verstehe. Vielen Dank.« Er wandte sich mit einem entwaffnenden Lächeln an Argyll: »Ihre Zeugin, Sir.«
»Ich danke Ihnen, Sir, ich danke Ihnen sehr.« Argyll erhob sich langsam von seinem Stuhl.
»Mrs. Murdoch…«
Sie beobachtete ihn wachsam, fest davon überzeugt, daß er nur ihr Feind sein konnte.
»Jawohl, Sir.«
»Die Koffer Ihrer Frau Mutter… Ich nehme an, Sie haben sie selber ausgepackt und nicht Ihr Hausmädchen damit beauftragt? Sie haben doch ein Hausmädchen?«
»Natürlich!«
»Aber diesmal, angesichts der tragischen Umstände, haben Sie beschlossen, die Sachen selber auszupacken?«
»Ja.«
»Warum?«
Ein Raunen der Mißbilligung ging durch den Saal. Einer der Geschworenen räusperte sich vernehmlich. Der Richter runzelte die Stirn, schien etwas sagen zu wollen, hielt sich
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