Dunkler Grund
Ihnen«, antwortete Henry Rathbone und lächelte schwach. »Stehplatz. Für einen Sitzplatz war ich zu spät dran.« Sie gingen los, Monk blieb an seiner Seite. »Ich hätte nicht gedacht, daß das öffentliche Interesse so groß ist. Diese Sensationslust ist etwas höchst Unangenehmes. Ich mag die Menschen als Einzelwesen, aber in der Masse zeigen sie ihre unerfreulichsten Eigenschaften. Muß wohl eine Art Herdeninstinkt sein. Der Geruch nach Angst, nach etwas, das verwundet ist…« Er brach unvermittelt ab. »Es tut mir leid.«
»Sie haben völlig recht«, stimmte Monk grimmig zu. »Und Gilfeather versteht sein Geschäft.« Den Rest des Gedankens sprach er nicht aus. Es erübrigte sich.
Eine Weile gingen sie in einvernehmlichem Schweigen nebeneinanderher. »Verlieren Sie nicht die Hoffnung«, sagte Rathbone unvermittelt, als sie eine Straße überquerten. »Argyll ist auch nicht auf den Kopf gefallen. Jemand aus der Familie hat es getan. Denken Sie einmal dran, wie die sich jetzt fühlen müssen! Denken Sie an die Schuld, egal, welche Leidenschaft sie dazu getrieben hat; ob es nun Angst war oder Habgier oder Vergeltung für ein Unrecht, ein wirkliches oder eingebildetes. Das Entsetzen bleibt, bei jedem, der nicht völlig verrückt ist, das Entsetzen darüber, diesen unwiderruflichen Schritt getan zu haben.«
Monk sagte nichts, er ging neben dem Alten her, in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Henry Rathbone hatte recht.
»Vielleicht auch eine Art Euphorie«, fuhr Henry fort. »Sie scheinen gewonnen zu haben. Sie haben den Sieg vor Augen.«
Monk schnaubte. »Was ist das für ein Sieg? Haben sie etwas gewonnen, oder sind sie einer Gefahr entronnen? Ist es Euphorie oder Erleichterung?«
»Weder noch«, sagte Henry Rathbone und schüttelte den Kopf. »Noch kann der Arm des Gesetzes sie erreichen. Oliver würde fragen, nachbohren, Mißtrauen unter ihnen säen. Ich hoffe, daß Argyll es auch so macht.«
Keiner von ihnen redete von Hester, aber Monk wußte, daß auch Henry Rathbone an sie dachte. Es war sinnlos über Sieg oder Niederlage zu reden, und es war zu schmerzhaft, daran zu rühren.
Schweigend gingen sie zusammen den Lawnmarket hinauf.
9
Hester fühlte sich entsetzlich allein, als sie in dem Käfig stand und darauf wartete, bis man sie durch diese seltsame Falltürkonstruktion nach oben in den Gerichtssaal brachte, um sie nicht durch die gaffende Menge führen zu müssen. Es war ein bitterkalter Tag, und hier unten wurde nicht geheizt. Sie zitterte unkontrolliert, und in einem Anflug von Selbstironie sagte sie sich, daß es nichts mit Angst zu tun haben könne.
Aber als es an der Zeit war und sie in den überfüllten Saal hinaufgezogen wurde, vermochte auch die Wärme, die von den beiden Kohlenfeuern und den vielen Menschen ausging, nicht bis in ihr Inneres zu dringen, das Zittern zu beenden und die verkrampften Muskeln ein wenig zu lockern.
Sie suchte den Saal nicht nach den Gesichtern von Monk, Callandra oder Henry Rathbone ab. Es schmerzte zu sehr. Es erinnerte sie an alles, was ihr teuer war und wovon sie sich vielleicht schon bald trennen mußte. Mit jeder Zeugenaussage wurde die Wahrscheinlichkeit größer. Ihr waren Argylls kleine Siege nicht entgangen, aber sie ließ sich nicht täuschen. Allenfalls ein Narr hätte sich deswegen Hoffnung gemacht. Es waren gewonnene Schlachten – aber der Krieg war verloren.
Der erste Zeuge des Tages war Connal Murdoch. Sie hatte ihn auf dem Bahnhof in London gesehen. Damals war er durcheinandergewesen, erschüttert über die Nachricht von Marys Tod und besorgt um die körperliche und seelische Gesundheit seiner Frau. Jetzt wirkte er ganz anders, ruhig und gelassen. Er trug einen schlichten schwarzen Anzug, sauber geschneidert, aber ein wenig phantasielos. Ein teurer Anzug ohne Eleganz, so wie der Mann selber keine rechte Vorstellung von Charme zu haben schien, nur davon, was ihm gut paßte.
Aber eine gewisse Intelligenz konnte sie dem Mann mit den tiefliegenden Augen, dem nervösen Mund und der Stirnglatze nicht absprechen.
»Mr. Murdoch«, begann Gilfeather freundlich. »Erlauben Sie mir bitte, mit Ihnen noch einmal die Ereignisse jenes tragischen Tages durchzugehen. Sie und Ihre Frau wollten Mrs. Farraline vom Nachtzug aus Edinburgh holen?«
Murdoch nickte.
»Hatte Mrs. Farraline selber Sie von dem bevorstehenden Besuch in Kenntnis gesetzt?«
»Ja.« Murdoch schien ein wenig erstaunt zu sein, obwohl Gilfeather die Fragen vor der Sitzung mit
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