Dunkler Grund
ihm durchgegangen sein dürfte.
»Gab es in ihren Briefen irgendwelche Hinweise darauf, daß sie sich um ihre Sicherheit Sorgen machte?«
»Natürlich nicht.«
»Kein Wort über Familienprobleme, Streitigkeiten oder Ungemach anderer Art?«
»Kein Wort!« Murdoch schien etwas irritiert. Solche Gedanken erschienen ihm absurd, und es mißfiel ihm sichtlich, daß Gilfeather die Sprache darauf brachte.
»Sie hatten also keine dunklen Vorahnungen, als sie zum Bahnhof fuhren, kein Gedanke daran, daß etwas nicht in Ordnung sein könnte?«
»Nein, Sir, ich sagte es bereits.«
»Und was war der erste Hinweis darauf, daß etwas nicht in Ordnung war?«
Es wurde unruhig im Saal. Das Interesse war erwacht.
Gegen ihren Willen warf Hester einen Blick auf Oonagh und sah ihr blasses Gesicht mit dem wunderschönen Haar. Sie saß wieder neben Alastair, ihre Schultern berührten sich beinahe. Einen Augenblick lang tat sie ihr leid. Sie schien sich ganz darauf zu konzentrieren, Alastair, der aschfahl im Gesicht war, eine Stütze zu sein. Sie waren die beiden Ältesten. Hatten sie Mary besonders nahe gestanden? Hester fiel ein, daß Mary gesagt hatte, sie hätten sich schon als Kinder gegenseitig getröstet.
Connal Murdoch erzählte gerade, wie er die Todesnachricht erhalten und sie seiner Frau gebracht hatte. Er war ein guter Zeuge, gelassen und sachlich machte er seine Aussagen.
Kenneth Farraline konnte Hester nirgends entdecken. Hatte er tatsächlich Firmengeld unterschlagen? Und seine Mutter ermordet, weil sie dahintergekommen war? Er wäre nicht der erste Mann, der solch einer Versuchung erlegen war, blind vor Liebe, und der dann – aus Furcht vor Entdeckung – etwas noch Verzweifelteres getan hatte, um seine unüberlegte Tat zu vertuschen.
Ob Oonagh ihn schützte?
Hester blickte in ihr außergewöhnliches, starkes Gesicht und fand dort keinen Hinweis.
Connal Murdoch berichtete vom ersten Zusammentreffen mit Hester im Büro des Bahnhofsvorstehers. Es war seltsam, hier zu stehen und sich die Geschichte aus der Sicht eines anderen anhören zu müssen, ohne die Möglichkeit, Unwahrheiten und falsche Wahrnehmungen korrigieren zu können.
»Ja, sicher«, sagte er gerade. »Sie war blaß, aber einigermaßen gefaßt. Natürlich hatten wir gleich den Verdacht, daß sie für den Tod meiner Schwiegermutter verantwortlich war!«
Argyll sprang von seinem Platz auf.
»Schon gut, Mr. Argyll«, sagte der Richter ungeduldig. Er wandte sich dem Zeugenstand zu. »Mr. Murdoch, wie auch immer ihre eigenen Überzeugungen aussehen mögen, dieses Gericht geht von der Unschuld der Angeklagten aus, bis die Geschworenen sie für schuldig erklärt haben. Würden Sie das bitte bei Ihren Aussagen berücksichtigen.«
Murdoch schaute betroffen.
Argyll brannte darauf, seinen Protest in wesentlich deutlichere Worte zu kleiden, als es der Richter getan hatte, aber man ließ ihn nicht. Hinter ihm saß Oliver Rathbone, starr und bewegungslos, nur die Finger der linken Hand trommelten auf einen Stoß mit Notizblättern.
Hester betrachtete die anderen Farralines. Einer von ihnen hatte Mary getötet. Es kam ihr absurd vor, daß sie hier stehen und um ihr Leben kämpfen mußte und ihnen dabei ins Gesicht sehen konnte, einem nach dem anderen, ohne zu wissen, wer von ihnen es getan hatte.
Wußten sie alle Bescheid – oder nur der oder die Schuldige? Der alte Hector war nicht im Saal! Ob er mal wieder betrunken war, wie gewöhnlich, oder hatte Argyll vor, ihn in den Zeugenstand zu rufen? Er hatte ihr nichts davon gesagt.
Manchmal war es besser, einen anderen die Verteidigung planen und den Kampf ausfechten zu lassen. Aber es gab auch Momente quälender Hilflosigkeit, da hätte sie alles dafür gegeben, aufstehen und selber reden, Zeugen befragen, die Wahrheit aus ihnen herauspressen zu dürfen.
Gilfeather war mit der Befragung fertig und nahm Platz. Er fühlte sich wohl, war mit seiner Position sehr zufrieden und hatte auch allen Grund dazu. Die Geschworenen saßen in andächtigem, feierlichem Schweigen mit verschlossenen Gesichtern auf ihren Plätzen – sie hatten sich ihre Meinung wohl schon gebildet. Keiner von ihnen hatte einen Blick für die Anklagebank übrig.
Argyll erhob sich, aber er hatte nicht viel zu sagen und noch weniger entgegenzusetzen.
Hinter ihm kochte Oliver Rathbone vor Ungeduld. Je länger diese Beweisaufnahme dauerte, desto tiefer grub die Überzeugung von Hesters Schuld sich in die Köpfe der Geschworenen. Und welcher Mann
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