Dunkler Grund
Diamantbrosche auch auf der Liste?«
»Nein. Sollte Mutter sie mitgenommen haben, hat sie sich im letzten Augenblick dafür entschieden.«
»Ich verstehe. Aber unter ihren Dingen haben Sie die Brosche nicht gefunden?«
»Nein.«
»Vielen Dank, Mrs. McIvor.«
Gilfeather räumte seinen Platz und bot Argyll mit einer großzügigen Geste an, die Befragung fortzusetzen.
Argyll dankte ihm und erhob sich.
»Mrs. McIvor, von diesem zweiten Schmuckstück haben Sie bisher nichts gesagt, ja, wir hören zum erstenmal davon. Warum?«
»Weil wir vorher nicht bemerkt hatten, daß es fehlte«, antwortete Oonagh.
»Wie seltsam! Solch ein wertvolles Stück wurde doch bestimmt an einem sicheren Ort aufbewahrt, in einem abschließbaren Kästchen oder etwas Ähnlichem.«
»Ich nehme es an.«
»Sie wissen es nicht?«
Sie war unsicher. »Nein. Sie gehörte meiner Mutter, nicht mir.«
»Wie oft haben Sie die Brosche an Ihrer Mutter gesehen?«
»Ich…« Sie sah ihn mit jenem aufmerksamen, direkten Blick an, dem sich auch Monk ein paarmal ausgesetzt gesehen hatte.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß sie die Brosche jemals getragen hat.«
»Und woher wissen Sie, daß sie in ihrem Besitz war?«
»Weil sie bei unserem Familienjuwelier in Auftrag gegeben, bezahlt und abgeholt worden ist.«
»Von wem?«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Mr. Argyll«, räumte sie ein. »Aber sie gehört weder mir noch einer meiner Schwestern und auch nicht meiner Schwägerin. Sie kann nur meiner Mutter gehört haben. Sie wird die Brosche wohl getragen haben, als ich nicht dabei war, deshalb kann ich mich nicht erinnern.«
»Wäre es nicht möglich, Mrs. McIvor, daß die Brosche ein Geschenk für jemanden anderen war, etwa für eine Dame, die gar nicht zur Familie gehört?« legte er nahe. »Das würde erklären, warum niemand sie zu sehen bekommen hat und warum sie jetzt nicht aufzufinden ist. Würden Sie mir zustimmen?«
»Wenn es die Wahrheit wäre, ja«, erwiderte sie verächtlich.
»Aber für jemanden, der nicht zur Familie gehört, wäre es ein zu kostspieliges Geschenk. Wir sind großzügig, will ich hoffen, aber keineswegs verschwenderisch.«
Zustimmendes Kopfnicken im Publikum.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, Mrs. McIvor, wurde die Brosche in Auftrag gegeben, aber noch niemand hat sie gesehen, obwohl sie bezahlt worden ist. Aber Sie haben keinen Beweis dafür, daß Miss Latterly sie hat oder jemals gehabt hat?«
»Sie hatte die Perlenbrosche«, stelle Oonagh fest. »Und das streitet sie nicht einmal ab.«
»Nein, natürlich nicht«, stimmte Argyll ihr zu. »Sie hat alles getan, um sie Ihnen so schnell wie möglich zurückzugeben, nachdem sie sie entdeckt hatte. Aber die Diamantbrosche hat sie noch nie gesehen, so wenig wie Sie selber.«
Oonagh errötete, wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders.
Argyll lächelte. »Danke, Mrs. McIvor. Ich habe keine weiteren Fragen.«
Ein kleiner Sieg, aber die Freude darüber war nur von kurzer Dauer. Gilfeather war amüsiert. Er konnte es sich leisten.
Er rief den Schaffner des Zuges in den Zeugenstand, mit dem Hester und Mrs. Farraline gereist waren. Der Schaffner sagte genau das, was man von ihm erwartet hatte. Soweit er wisse, sei niemand anders in den Wagen gestiegen. Die Frauen seien die ganze Reise über allein gewesen. Ja, Mrs. Farraline habe das Abteil mindestens einmal verlassen, um einem menschlichen Bedürfnis nachzukommen. Ja, Miss Latterly sei ziemlich verzweifelt gewesen, als sie ihm den Tod einer älteren Dame gemeldet habe. Er sei ihr gefolgt, um sich die Sache anzusehen, und sie sei – zu seinem großen Bedauern – tatsächlich tot gewesen.
Argyll wußte nur zu gut, daß er es sich mit den Geschworenen nicht verscherzen durfte, indem er Fragen stellte, deren Antwort ohnehin jeder kannte; er verzichtete darauf, einen kleinen Mann zu schikanieren, der nur seine Pflicht getan hatte. Das Angebot zum Kreuzverhör schlug er mit einer Handbewegung und einem Kopfschütteln aus.
Auch der Stationsvorsteher hatte nichts Unerwartetes zu berichten, auch wenn er alles ein wenig dramatisierte.
Monk ließ den Blick interessiert durch den Saal schweifen. Ein paar Sekunden lang konnte er Hester unbemerkt beobachten, weil sie den Blick auf den Zeugenstand gerichtet hatte. Er betrachtete sie aufmerksam. Sie war nicht schön, aber die Anspannung und die Angst verliehen ihrem Gesicht etwas Vornehmes, das der Schönheit sehr nahe kam. Er war erstaunt, wie vertraut sie ihm
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