Dunkler Grund
Apotheke, Sir. Die Dosis muß exakt abgemessen werden, sonst könnte sie …«, sie schluckte, »… tödlich sein, Sir. Aber wir müssen noch Flüssigkeit hinzufügen, um sie genießbar zu machen, zumindest …«
»Ich verstehe, ja, ist ja ziemlich einfach. Und das war ein neuer Vorrat, ein Dutzend Phiolen für die Reise.«
»Ja, Sir. Und wenn sie länger als sechs Tage fortgeblieben wäre, dann hätte man bei einem Londoner Apotheker Nachschub besorgen können.«
»Wie praktisch. Das Rezept hatte sie natürlich dabei.«
»Ja, Sir.«
»Man mußte also keine Angst haben, daß ihr das Mittel ausgeht.«
»Nnein…«
Gilfeather rutschte nervös auf seinem Platz herum. Er war ungeduldig. Wäre sein Gegner nicht so prominent gewesen, hätte er die Taktik der Vernehmung längst als Zeitverschwendung abgetan.
»Mr. Argyll«, fragte der Richter gereizt, »verfolgen Sie ein bestimmtes Ziel? Wenn ja, dann sollten Sie zur Sache kommen.«
»Jawohl, Euer Ehren«, sagte Argyll höflich und wandte sich wieder dem Zeugenstand zu. »Miss McDermot, wenn Sie Mrs. Farraline in der Hektik der Reisevorbereitungen bereits am Morgen eine der vorbereiteten Phiolen gegeben hätten, statt extra eine Dosis anzurühren – hätte das etwas ausgemacht? Ich will nur von Ihnen wissen, ob es etwas ausgemacht hätte, nicht, ob Sie es getan haben!«
Sie starrte ihn an, als hätte sie eine Schlange gesehen.
»Miss McDermot?«
»Sie müssen darauf antworten!« sagte der Richter.
Sie schluckte. »Nnein. Nein, Sir, eigentlich hätte das nichts ausgemacht.«
»Es wäre nicht gefährlich für sie gewesen?«
»Nein, Sir. Überhaupt nicht gefährlich.«
»Ich verstehe.« Er lächelte, als wäre er sehr zufrieden mit der Antwort. »Vielen Dank, Miss McDermot, das ist alles.« Gilfeather erhob sich blitzschnell. Unruhe ging durch den Saal wie ein leichter Wind durch ein Weizenfeld. Gilfeather öffnete den Mund. Miss McDermot sah ihn an. Gilfeather sah Argyll an. Argylls Lächeln veränderte sich nicht im mindesten.
Rathbone ballte so fest die Fäuste, daß die Nägel ins Fleisch schnitten. Würde Gilfeather es riskieren, nach der ersten Phiole zu fragen? Wenn sie zugab, sie Mary Farraline gegeben zu haben, seine Beweisführung ernsthaft gefährdet.
Gilfeather riskierte es nicht. Sie könnte sie ihr gegeben haben. Und womöglich traute sie sich nicht, es unter Eid zu leugnen. Er setzte sich wieder.
Ein Seufzer ging durch den Saal, das Rascheln von Stoff, als alle sich enttäuscht zurücklehnten. Einer der Geschworenen stieß einen unterdrückten Fluch aus.
Miss McDermot mußte gestützt werden, nachdem sie an der untersten Stufe aus unsagbarer Erleichterung gestolpert war.
Noch immer spielte ein Lächeln um Argylls Lippen. Rathbone schickte ein Stoßgebet gen Himmel.
Gilfeathers nächster Zeuge war der Arzt, den Connal Murdoch gerufen hatte, ein kleiner, rundlicher Herr mit schwarzem Haar und einem schmalen, schwarzen Oberlippenbart.
»Dr. Ormorod«, sagte er mit sanfter Stimme, sobald die Angaben zur Person sorgfältig protokolliert waren, »Sie wurden von Mr. Connal Murdoch gerufen, um die verstorbene Mrs. Farraline zu untersuchen, ist das korrekt?«
»Jawohl, Sir, das ist korrekt. Um halb elf am Vormittag des siebten Oktober in diesem Jahr des Herrn«, antwortete der Arzt.
»Sind Sie sofort gekommen?«
»Nein, Sir. Ich war zu einem Kind gerufen worden, das ernstlich an Keuchhusten erkrankt war. Man hatte mich über das Ableben von Mrs. Farraline in Kenntnis gesetzt, deshalb sah ich keinen Grund zu besonderer Eile.«
Nervöses Kichern im Publikum. Einer der Geschworenen, ein großer Mann mit weißer Mähne, strafte den Übeltäter mit einem finsteren Blick.
»Hat man Ihnen gesagt, warum man Sie rufen ließ, Dr. Ormorod?« fragte Gilfeather. »Das war doch eine ungewöhnliche Konsultation, oder?«
»Eigentlich nicht, Sir. Ich hatte zunächst gedacht, ich sollte mich um Mrs. Murdoch kümmern. Der Schock eines plötzlichen Verlustes kann durchaus ein Grund für ärztliche Intervention sein.«
»Ja… ich verstehe. Und was war dann, als Sie im Haus der Murdochs eintrafen?«
»Mrs. Murdoch, die Ärmste, war in einem erbärmlichen Zustand, das versteht sich von selbst, aber der Grund für ihre Verzweiflung hat mich etwas verwundert.« Dem Doktor wurde zunehmend bewußt, daß er im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand. Er richtete sich immer mehr auf, hob das Kinn und setzte die Worte wie ein Schauspieler, der einen großen
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