Dunkler Grund
die Menschen zu wissen, Sir, wenn Sie zu solchen Einschätzungen kommen. Sie wollen wohl nicht sehen, daß die meisten Verbrechen von erfahrenen Halunken oder innerhalb der Familie verübt werden. In diesem Fall, fürchte ich, haben wir es mit letzterem zu tun. Ich weiß wohl, daß es nicht Ihre Aufgabe ist, nach der Wahrheit zu suchen. Sie müssen eine Verurteilung erreichen… was meiner Ansicht nach sehr traurig ist. Aber…«
»Madam!« Der Hammer des Richters knallte lautstark auf die Bank. »Das Gericht wird es nicht zulassen, daß Sie hier Beurteilungen über das schottische Rechtssystem und seine vermeintlichen Mängel abgeben. Antworten Sie auf die Fragen des Staatsanwalts, und enthalten Sie sich eigener Kommentare. Mr. Gilfeather, Sie sollten sich bemühen, Ihre Zeugen unter Kontrolle zu halten, die gegnerischen und die eigenen!«
»Jawohl, Euer Ehren«, antwortete Gilfeather gehorsam, auch wenn er nicht so wütend war, wie er hätte sein sollen. »Also, Euer Ladyschaft, wenn wir uns nun wieder unserer Sache zuwenden könnten. Bitte erzählen Sie dem Gericht, was passiert ist, als Miss Latterly Sie nach ihrer Rückkehr aus Edinburgh besuchte. Wenn Sie bitte mit der Ankunft in Ihrem Haus beginnen wollen.«
»Sie war völlig verzweifelt«, antwortete Callandra. »Es war ungefähr Viertel vor elf, wenn ich mich recht entsinne.«
»Aber der Zug kommt doch viel früher in London an«, unterbrach er sie.
»Viel früher«, bestätigte sie. »Sie war durch Mrs. Farralines Tod aufgehalten worden, dem Schaffner und dem Stationsvorsteher hatte sie Bericht erstatten müssen und später Mr. und Mrs. Murdoch. Direkt vom Bahnhof ist sie in mein Haus gekommen, müde und sehr niedergeschlagen. Sie hatte Mrs. Farraline in der kurzen Zeit ins Herz geschlossen. Eine bemerkenswerte alte Dame, hat Hester gesagt, humorvoll und intelligent.«
»Das will ich gerne glauben«, erwiderte Gilfeather trocken, sah die Geschworenen, dann wieder Callandra an. »Sie wird bereits sehr vermißt. Wie hat es sich nach Miss Latterlys Darstellung zugetragen?«
Callandra antwortete so exakt, wie es ihr möglich war, und keiner im Saal rührte sich, während sie redete. Auf Gilfeathers Aufforderung hin erzählte sie, wie Hester nach oben gegangen war, um sich zu waschen, wie sie mit der grauen Perlenbrosche zurückkam und was danach alles passiert war. Gilfeather bemühte sich nach Kräften, ihre Antworten zu beschneiden, seine Fragen so zu formulieren, daß ein Ja oder Nein ausreichend gewesen wäre, aber sie ließ sich nicht gängeln.
Rathbone saß ganz still hinter Argyll, lauschte auf jedes Wort und behielt dabei ständig die Gesichter der Geschworenen im Auge. Er sah, welchen Respekt sie vor Callandra hatten. Sie schienen sie tatsächlich zu mögen, aber sie spürten natürlich ihre Parteilichkeit für die Angeklagte.
Er schaute zu den Farralines hinüber. Oonagh war gefaßt wie immer; mit ruhigem Gesicht, voller Interesse und nicht ohne Respekt betrachtete sie Callandra. Neben ihr schien Alastair wesentlich niedergeschlagener, sein Adlergesicht wirkte abgehärmt, als hätte er schlecht geschlafen, und das war nicht erstaunlich. Ob er über die Geschäftsbücher Bescheid wußte? Vielleicht hatte er nach dem Tod seiner Mutter eigene Ermittlungen angestellt. Verdächtigte er seinen labilen jüngeren Bruder?
Was für Streitereien mochte es in dieser Familie geben, wenn die Türen geschlossen waren und die Öffentlichkeit weder etwas sehen noch hören konnte? Kein Wunder, daß niemand von ihnen einen Blick für Hester übrig hatte! Wußten sie, oder konnten sie sich zumindest vorstellen, daß sie unschuldig war?
Er beugte sich vor und tippte Argyll auf die Schulter. Argyll lehnte sich zurück, um Rathbone hören zu können.
»Wollen Sie nicht auf die Schuld der Familie spekulieren?« flüsterte Rathbone. »Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß zumindest einer von ihnen weiß, wer es war – und das Motiv kennt!«
»Wer?«
»Alastair, nehme ich an. Er ist der Kopf der Familie, und er sieht sehr mitgenommen aus.«
»Der bricht nicht zusammen, solange seine Schwester da ist, um ihn zu stützen«, erwiderte Argyll so leise, daß Rathbone ihn kaum verstand. »Man müßte einen Keil zwischen die beiden treiben, aber ich weiß nicht wie, und ein Fehlversuch würde sie nur stärker zusammenschweißen. Diese Oonagh McIvor ist eine eindrucksvolle Frau.«
»Ob sie ihren Ehemann schützt?«
»Ich könnte es mir vorstellen, aber warum? Warum
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