Dunkler Grund
keiner Weise reumütig. Der Schaden war angerichtet, und jeder wußte es.
Ormorod sagte nichts.
Argyll bedankte sich und entließ ihn. Ormorod trat fast ein wenig widerwillig ab. Er hatte den Augenblick im Rampenlicht genossen.
Am dritten Tag rief Gilfeather Mrs. Farralines Hausarzt in den Zeugenstand, damit er ihre Krankheit, deren Natur und Dauer beschrieb und ihm bestätigte, daß sie durchaus noch ein paar glückliche, erfüllte Jahre hätte leben können. Das Publikum murmelte mitfühlend. Der Arzt erklärte das Medikament und die Dosis, die er verschrieben hatte.
Argyll sagte nichts.
Der Apotheker, der die Arznei hergestellt hatte, wurde aufgerufen und beschrieb den Vorgang in allen Einzelheiten.
Wieder hielt Argyll sich zurück, er ließ sich lediglich versichern, daß die Medizin in der gleichen Menge Flüssigkeit auch in doppelter Stärke angerührt werden konnte und daß es dazu nicht der Kenntnisse einer Krankenschwester bedurfte. Keine große Überraschung.
Die nächste Zeugin war Callandra Daviot. Irgendwie hatte es sich im Saal herumgesprochen, daß sie eine Freundin von Hester Latterly war, also schlug ihr Feindseligkeit entgegen. Man erwartete einen geistigen Schlagabtausch. Die Leute reckten ihre Hälse, um zu sehen, wie sie mit ihrer steifen, breithüftigen Gestalt durch den Saal schritt und die Stufen zum Zeugenstand erklomm.
»Lady Callandra.« Gilfeather war höflich, aber kühl. Er war nicht so naiv zu glauben, sie mit Charme gewinnen oder zumindest bei den Geschworenen einen solchen Eindruck erwecken zu können. Gelegentlich hatte er die Sensibilität von Geschworenen überschätzt – unterschätzt hatte er sie nie. »Seit wann kennen Sie Hester Latterly?«
»Seit dem Sommer achtzehnhundertsechsundfünfzig«, antwortete Callandra.
»Und Sie pflegen eine gute, sogar herzliche Freundschaft?«
»Ja.« Was hätte Callandra anderes sagen sollen? Vielleicht wäre ihre Parteinahme für Hester glaubwürdiger erschienen, wenn sie es bestritten hätte, aber dann hätte sie sich eine Erklärung dafür ausdenken müssen, warum die Beziehung kühl geblieben sei. Sie und Gilfeather wußten es beide, und die Geschworenen beobachteten genau, was sie sagte und was sie lieber ungesagt ließ.
»Wußten Sie von ihrer Absicht, die Stelle bei den Farralines anzunehmen?«
»Ja.«
»Miss Latterly hat Sie darüber informiert?«
»Ja.«
»Was hat sie Ihnen darüber erzählt? Bitte, berichten Sie ganz genau, Lady Callandra. Sie wissen, daß Sie unter Eid stehen.«
»Natürlich weiß ich das«, entgegnete sie schroff. »Es ist absolut überflüssig, mich darauf hinzuweisen.«
Gilfeather nickte, sagte aber nichts.
»Fahren Sie fort«, forderte der Richter sie auf.
»Sie hat gesagt, daß sie sich auf die Reise freut, weil sie noch nie in Schottland gewesen ist.«
»Sind Sie über Miss Latterlys finanzielle Verhältnisse informiert?« fragte Gilfeather, hob die Augenbrauen und fuhr sich durch das widerspenstige Haar.
»Nein, das bin ich nicht.«
»Sind Sie ganz sicher?« fragte Gilfeather verwundert. »Als gute Freundin, vor allem als eine Freundin, die selber über beträchtliche Geldmittel verfügt, haben Sie sich doch sicher hin und wieder erkundigt, ob sie ihr nicht unter die Arme greifen können.«
»Nein.« Callandras fester Blick gebot ihm, ihr zu glauben.
»Sie ist stolz und kann gut für sich selbst sorgen. Ich denke, wenn sie in Schwierigkeiten geriete, wüßte sie, daß sie sich auch diesbezüglich an mich wenden könnte, und mir würde es auch nicht entgehen. Aber sie war noch nie in dieser Lage. Geld ist ihr nicht sehr wichtig, solange sie ihren Verpflichtungen nachkommen kann. Sie hat eine Familie, müssen Sie wissen, die Hester von Herzen gerne bei sich aufnehmen würde, wenn sie nur wollte! Und wenn Sie uns hier eine Hester Latterly vorführen wollen, die verzweifelt bemüht ist, Leib und Seele zusammenzuhalten, dann sind Sie auf dem Holzweg.«
»Das will ich gar nicht«, versicherte ihr Gilfeather. »Ich dachte an etwas, das weniger Mitleid erregt, dafür aber leichter zu begreifen ist, Lady Callandra: an Habgier. Eine Frau, die keine hübschen Dinge besitzt, sieht eine Brosche, die ihr gefällt, und in einem schwachen Moment greift sie zu, und dann ist sie gezwungen, dieses Verbrechen durch ein unvergleichlich schlimmeres Verbrechen zu kaschieren.«
»Unfug!« erwiderte Callandra aufgebracht, Zorn und Abscheu standen ihr im Gesicht. »Kompletter Unfug! Sie scheinen wenig über
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