Dunkler Grund
hätte Baird McIvor seine Schwiegermutter töten sollen?
»Ich weiß es nicht«, mußte Rathbone gestehen.
Der Richter warf ihm einen strafenden Blick zu, und er mußte ein paar Minuten lang schweigen, bis Callandra wieder das Mißfallen des Richters erregte und er abgelenkt war.
»Angst«, flüsterte er Argyll zu.
»Vor wem?« fragte Argyll mit ausdruckslosem Gesicht.
»Spielen Sie die Karte der Angst«, riet ihm Rathbone.
»Nehmen Sie den Schwächsten, und stellen Sie ihn in den Zeugenstand, damit die anderen Angst bekommen, er oder sie könnte etwas verraten, aus Furcht oder Ungeschicklichkeit oder um die eigene Haut zu retten.«
Argyll schwieg so lange, daß Rathbone schon vermutete, er habe ihn nicht gehört. Gerade wollte er sich vorbeugen und es wiederholen, da antwortete Argyll: »Der Schwächste? Wer ist das? Eine der Frauen? Eilish mit ihrer Armenschule oder Deirdra mit der Flugmaschine?«
»Nein, keine der Frauen«, sagte Rathbone mit einer Überzeugung, die Argyll verwunderte. »Setzen Sie auf Kenneth. Er ist das schwache Glied – und vielleicht auch der Mörder. Monk hat Informationen über seine Geliebte. Rufen Sie den alten Hector an, falls er nüchtern genug ist. Das wird reichen, um die Frage der Geschäftsbücher auf den Tisch zu bringen.«
»Danke, Mr. Rathbone«, erwiderte Argyll knapp. »Daran hatte ich bereits gedacht.«
»Ja, natürlich«, räumte Rathbone ein. »Ich bitte um Verzeihung«, fügte er noch hinzu.
»Akzeptiert«, murmelte Argyll. »Weil ich um Ihre persönliche Verwicklung mit der Angeklagten weiß. Nur deshalb.«
Rathbone schoß das Blut in den Kopf. Er hatte in seiner Beziehung zu Hester bisher keine »Verwicklung« gesehen.
»Ihr Zeuge, Mr. Argyll!« sagte der Richter in scharfem Ton.
»Wenn Sie so freundlich wären, uns wieder Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, Sir!«
Argyll erhob sich. Er gab dem Richter keine Antwort. Er mißtraute sich wohl selbst.
»Lady Callandra«, sagte er höflich. »Nur um sicher zu gehen, daß wir Sie richtig verstanden haben: Sie waren unten, als Miss Latterly Ihnen die Brosche gebracht hat? Sie haben sie nicht in ihrem Gepäck gefunden und auch niemand von Ihrem Personal?«
»Nein. Sie hat sie gefunden, als sie sich für den Lunch frisch machen wollte. Keiner meiner Hausangestellten hätte Gelegenheit gehabt, in ihrem Gepäck nachzusehen, und sie selber wohl auch nicht, wenn sie nicht zum Essen geblieben wäre.«
»Aha. Und sie ist gleich mit der Brosche zu Ihnen gekommen?«
»Ja. Es war schließlich nicht ihre, und sie befürchtete Komplikationen.«
»Womit sie auf tragische Weise recht behielt. Und Sie haben ihr den Rat gegeben, sich in der Sache an einen Anwalt zu wenden, damit die Brosche dem Nachlaß der Mrs. Farraline zurückgegeben werden konnte?«
»Ja. Sie ging damit zu Mr. Oliver Rathbone.«
»Mit der Sache, Lady Callandra, oder mit der Brosche?«
»Mit der Sache. Die Brosche hat sie bei mir gelassen. Ich wünschte, sie hätte sie gleich mitgenommen.«
»Ich fürchte, es hätte an der traurigen Situation nichts geändert, Madam. Der Plan war sorgfältig ausgedacht. Sie hat alles getan, was ein vernünftiger Mensch tun kann, aber genützt hat es ihr nichts.«
»Mr. Argyll!« rügte ihn der Richter. »Ich möchte Sie nicht schon wieder verwarnen.«
Argyll senkte ergeben den Kopf. »Vielen Dank, Lady Callandra. Ich habe keine weiteren Fragen.«
Der letzte Zeuge der Anklage war Sergeant Daly. Er erzählte, wie Dr. Ormorod ihn gerufen hatte, und dann berichtete er über den Ablauf der Ereignisse bis zu Hesters Verhaftung und der Anklage wegen Mordes. Er sprach langsam, bedächtig und mit trauriger Stimme, hin und wieder schüttelte er den Kopf, und sein klarer, sanfter Blick wanderte mit freundlichem Wohlwollen durch den Gerichtssaal.
Gilfeather dankte ihm.
Argyll verzichtete auf Fragen. Es gab nichts dazu zu sagen und nichts zu widerlegen.
Gilfeather lächelte. Die Anklage schloß ihre Beweisführung. Die Geschworenen nickten einander schweigend zu, ihres Urteils bereits sicher.
10
Den nächsten Morgen eröffnete die Verteidigung. Im Zuschauerraum herrschte eine seltsame Atmosphäre; die Leute waren unruhig, tuschelten, alle paar Augenblicke wechselte die Stimmung zwischen Gleichmut und plötzlichem Interesse. Manche glaubten, es wäre bereits alles entschieden, die Verteidigung wäre nur noch eine juristische Notwendigkeit, um eventuellen Einsprüchen wegen unfairer Prozeßführung vorzubeugen. Andere rechneten
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