Dunkler Grund
gesagt? Jetzt war es zu spät.
»Würden Sie dem Gericht bitte erzählen, unter welchen Umständen Sie Miss Latterly kennengelernt haben, Sir?« forderte Argyll ihn auf.
»Ich habe während des Krieges auf der Krim im Sanitätscorps der Armee Dienst getan«, erwiderte Moncrieff.
Argyll machte große Augen und fragte unschuldig: »Bei welchem Regiment, Sir?«
»Bei den Scots Greys, Sir«, sagte Moncrieff, hob beinahe unmerklich das Kinn und straffte die Schultern.
»Eine ungewöhnliche Wahl für einen Engländer«, bemerkte Argyll.
Gilfeather saß stocksteif da.
»Ich bin sicher, Sie wollten mir nicht zu nahe treten, Sir«, sagte Moncrieff leise, »aber ich bin in Stirling zur Welt gekommen und habe in Aberdeen und Edinburgh Medizin studiert. Ich habe einige Zeit in England gelebt, aber auch im Ausland. Für meinen Akzent ist meine Mutter verantwortlich.«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Argyll. »Es war voreilig geurteilt, nach dem äußeren Anschein oder vielmehr nach dem Klang.« Er sagte nichts über die Dummheit solcher Vorurteile. Er wollte nicht zu dick auftragen. Die Geschworenen hatten auch so begriffen.
Zustimmendes Gemurmel im Zuschauerraum. Der Richter blickte finster.
Rathbone mußte gegen seinen Willen lächeln. »Bitte, fahren Sie fort, Mr. Argyll«, sagte der Richter mit übertriebenem Verdruß. »Wo immer der Herr Doktor geboren sein mag oder studiert hat, steht hier nicht zur Debatte. Ich nehme nicht an, daß er Miss Latterly damals schon gekannt hat. Oder? Also, machen Sie weiter!«
Der Rüffel störte Argyll nicht im geringsten. Er schenkte dem Richter ein Lächeln und wandte sich wieder an Moncrieff.
»Sie haben Miss Latterly also auf der Krim kennengelernt, Doktor?«
»Ja, Sir, bei vielen Gelegenheiten.«
»In Ausübung ihrer gemeinsamen Profession?«
Der Richter beugte sich vor, eine tiefe Falte zwischen den Brauen ließ sein Gesicht noch länger und schmaler erscheinen.
»Sir, bitte bemühen Sie sich um mehr Präzision! Sie führen die Geschworenen in die Irre. Dr. Moncrieff und Miss Latterly haben keine gemeinsame Profession, wie Sie wohl wissen. Dr. Moncrieff ist Arzt, er praktiziert die Kunst der Medizin. Miss Latterly ist Krankenschwester, sie geht den Ärzten bei der Pflege der Kranken zur Hand, legt Verbände an, macht die Betten, besorgt das Nötige. Sie diagnostiziert keine Krankheiten, verschreibt keine Arzneien, führt keine chirurgischen Eingriffe durch, nicht einmal die simpelsten. Sie tut, was ihr gesagt wird, nicht mehr. Hab’ ich mich klar ausgedrückt?« Er wandte sich an die Geschworenen. »Meine Herren?«
Wenigstens die Hälfte der Männer nickte weise.
»Und Sie Doktor«, wandte sich Argyll mit seiner sanftesten Stimme an Moncrieff, »maßen sich bitte keine juristischen Kenntnisse an. Beschränken Sie sich auf die Medizin als Ihre Disziplin und Miss Latterly als den Gegenstand Ihrer Beobachtung.«
Irgendwo im Saal war ein unterdrücktes Kichern zu hören, ein Mann lachte laut auf. Der Richter lief dunkelrot an, aber die Ereignisse hatten ihn überrollt. Er suchte nach Worten und fand keine.
»Natürlich nicht, Sir«, erwiderte Moncrieff schnell. »Ich weiß darüber nicht mehr als jeder Laie.«
»Haben Sie mit Miss Latterly zusammengearbeitet?«
»Sehr oft.«
»Welche Meinung haben Sie über ihre beruflichen Fähigkeiten?«
Gilfeather erhob sich. »Wir hegen keinerlei Zweifel an ihren beruflichen Fähigkeiten, Euer Ehren. Die Anklage unterstellt ihr keine fachlichen Irrtümer. Wir sind davon überzeugt, daß ihre Handlungen beabsichtigt waren und im vollen Bewußtsein der Konsequenzen durchgeführt wurden – medizinisch gesprochen jedenfalls.«
»Kommen Sie zum Wesentlichen, Mr. Argyll«, forderte der Richter ihn auf. »Das Gericht wartet auf Dr. Moncrieffs Beurteilung des Charakters der Angeklagten. Relevant oder nicht, sie hat das Recht, sie zu Gehör bringen zu lassen.«
»Euer Ehren, ich glaube, die Fähigkeit, seine Arbeit gut zu machen und die Sorge um andere über die eigene Sicherheit zu stellen, selbst dann, wenn man in großer Gefahr ist, ist ein wesentlicher Bestandteil des Charakters einer Person«, sagte Argyll lächelnd.
Es entstand ein langes, gespanntes Schweigen. Im Publikum rührte sich niemand. Ohne es zu wollen, warf Rathbone einen kurzen Blick auf Hester. Sie sah Argyll an, kalkweiß im Gesicht, aber mit einem Anflug von Hoffnung in den Augen.
Die Geschworenen warteten, fünfzehn Augenpaare richteten sich auf den
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