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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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mit geistreichen Wortgefechten, mochten sie auch noch so vergeblich sein. Die einen bewunderten Gilfeather, die anderen James Argyll. Beinahe jeder war Parteigänger: Diejenigen, die an keinem der beiden Interesse hatten, waren – des Ausgangs ohnehin sicher – zu Hause geblieben.
    Rathbone war so nervös, daß er vom ständigen Räuspern Halsweh hatte. Erst kurz vor dem Aufstehen war er eingeschlafen, und dann hatte er schreckliche Alpträume gehabt. Den Abend davor hatte er zunächst mit seinem Vater verbracht, aber seine Laune war so schlecht gewesen, daß er anderen damit nicht auf die Nerven gehen wollte, schon gar nicht Henry. Die Zeit von halb zehn bis Mitternacht hatte er allein verbracht, war den ganzen Fall im Geiste noch einmal durchgegangen, und als er damit nicht weitergekommen war, hatte er sich Gilfeathers Beweisführung noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Sie war nicht schlüssig, wie sollte sie es auch sein? Hester war unschuldig! Aber sie hätte die Gelegenheit gehabt, Mary Farraline zu töten, und solange sie keinen anderen Mörder und überzeugendere Beweise für seine Schuld präsentieren konnten, würden die Geschworenen sie für schuldig befinden.
    Der Richter wirkte kühl und selbstgefällig. Aus seiner Sicht war es kein schwieriger Fall. Er zweifelte nicht an einer Verurteilung. Sicher, es war nicht angenehm, eine Frau an den Galgen zu bringen, aber sie war nicht die erste und würde auch nicht die letzte sein. Anschließend würde er nach Hause gehen, zu seiner Familie, und gut zu Abend essen. Morgen wartete schon der nächste Fall auf ihn.
    Die Sitzung wurde eröffnet. James Argyll erhob sich von seinem Platz. Es herrschte Totenstille im Saal. Niemand gab einen Laut von sich.
    »Wenn es gestattet ist, Euer Ehren, meine Herren Geschworenen«, begann er. »Bis jetzt haben Sie viel über die Ursache des Todes von Mrs. Farraline erfahren, Sie haben viele Hinweise darauf erhalten, wie es dazu gekommen sein könnte. Sie haben auch ein wenig darüber erfahren, was für eine Frau sie war. Es liegt der Verteidigung fern, irgend etwas davon in Frage stellen zu wollen. Im Gegenteil, wir könnten dem noch einiges hinzufügen. Sie war charmant, intelligent, höflich, ehrenwert und besaß zudem so seltene Eigenschaften wie Großzügigkeit und Humor. Wir wollen nicht behaupten, daß sie perfekt war wer von uns Sterblichen ist das schon? –, und doch wüßten wir von keiner Schwäche und könnten nur Lobendes über sie sagen. Nicht nur ihre Familie trauert um sie.«
    Der Richter seufzte vernehmlich, aber niemand im Publikum wandte den Blick von Argyll. Ein, zwei Geschworene runzelten die Stirn, fragten sich, worauf er hinauswollte.
    Argyll wandte sich ihnen mit ernstem Blick zu.
    »Wir haben jedoch sehr wenig über den Charakter der Angeklagten erfahren, Miss Hester Latterly. Von der Familie Farraline haben wir gehört, daß sie alle Voraussetzungen für die leichte Aufgabe, mit der man sie betraut hatte, erfüllte, aber mehr wissen wir nicht. Als Angestellte hielt sie sich dort auf, nicht einmal einen Tag lang. Kaum Zeit genug, um einen Menschen kennenzulernen.«
    Der Richter beugte sich vor, sagte jedoch nichts. Er blickte zu Gilfeather hinüber. Gilfeather wirkte gelassen; sein widerspenstiges Haar stand zu Berge, aber er lächelte liebenswürdig und sorglos.
    »Ich schlage deshalb vor, daß wir zwei Zeugen zu ihrer Person hören«, fuhr Argyll fort. »Für den Fall, daß Ihnen einer nicht genügt, weil er voreingenommen sein könnte. Zuerst rufe ich Dr. Alan Moncrieff in den Zeugenstand.«
    Es entstand neugierige Unruhe im Publikum, als der Gerichtsdiener den Namen aufrief, als die Hälse sich reckten und die Köpfe sich der Tür zuwandten, durch die ein großer, schlanker Mann mit eindrucksvollem, hagerem Gesicht in den Saal trat, den leeren Raum zwischen Zuschauern und Zeugenstand durchquerte und die Stufen hinaufstieg. Nachdem er vereidigt worden war, wandte er sich Argyll erwartungsvoll zu.
    »Dr. Moncrieff, ist Ihnen die Angeklagte, Miss Hester Latterly, persönlich bekannt?«
    »Jawohl, Sir, ich kenne sie sehr gut.« Trotz seines schottischen Namens sprach er ein lupenreines, wunderbar moduliertes Englisch.
    Rathbone stieß einen leisen Fluch aus. Hätte Argyll nicht einen Mann finden können, der sich mehr wie ein Einheimischer anhörte? Und wenn Moncrieff in Edinburgh geboren und aufgewachsen war, man hörte nichts davon. Er hätte sich selber darum kümmern sollen. Warum hatte er nichts

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