Dunkler Grund
mein gelehrter Freund keine Fragen mehr hat, können Sie gehen.«
»Nein, danke«, verzichtete Argyll großzügig. »Vielen Dank, Dr. Moncrieff.«
Das Gericht vertagte sich auf den Nachmittag. Die Zeitungsreporter liefen hinaus, um Botenjungen mit den neuesten Nachrichten auf den Weg zu schicken, rempelten sich dabei gegenseitig und rannten in ihrer Aufregung Passanten über den Haufen. Der Richter hatte sich in äußerst schlechter Laune zurückgezogen.
Wohl hundert Dinge lagen Rathbone beim gemeinsamen Essen mit Argyll auf der Zunge. Er behielt sie alle für sich. Sie erschienen ihm zu offensichtlich, unnötig, allenfalls geeignet, seine Befürchtungen zu offenbaren.
Er hatte nicht geglaubt, daß er hungrig sei, und doch aß er sein Mittagessen im Speisesaal des Gasthofs, ohne es eigentlich zu merken. Plötzlich blickte er auf einen leeren Teller.
Schließlich konnte er sich nicht länger zurückhalten.
»Und heute nachmittag Miss Nightingale«, sagte er laut. Argyll hob den Blick, die Gabel noch in der Hand.
»Ja«, bestätigte er. »Eine phantastische Frau, nach allem, was ich weiß – und das ist wenig genug. Ich habe nur ein paar wenige Worte heute morgen mit ihr wechseln können. Ich muß gestehen, daß ich nicht weiß, ob ich sie führen oder ihr nur die Richtung angeben und darauf warten soll, daß sie Gilfeather alleine erledigt, falls er so unbedacht sein sollte, sie anzugreifen.«
»Sie müssen sie dazu bringen, etwas zu sagen, das ihn zum Angriff zwingt«, sagte Rathbone eindringlich und legte Messer und Gabel zur Seite. »Er ist zu klug, um etwas gegen sie zu sagen, es sei denn, Sie zwingen ihn dazu. Er wird sie nicht eine Sekunde länger als nötig im Zeugenstand stehenlassen, es sei denn, Sie bringen sie dazu, etwas zu sagen, das er nicht unwidersprochen lassen kann.«
»Ja…«, sagte Argyll nachdenklich. Den kleinen Rest auf seinem Teller rührte er nicht mehr an. »Ich denke, Sie haben recht. Aber was? Zu den Ereignissen in Edinburgh kann sie nicht viel sagen. Wahrscheinlich hat sie von den Farralines noch nie gehört. Sie weiß nicht, was hier passiert ist. Sie kann lediglich bezeugen, daß Hester Latterly eine fähige und gewissenhafte Krankenschwester war.«
Rathbones Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Florence Nightingale war nicht die Frau, die sich in etwas hineinmanövrieren lassen würde, weder von Argyll noch von Gilfeather. Was konnte sie zu dem Fall sagen, das Gilfeather unwidersprochen lassen konnte? Sie wußte ja nicht Bescheid über das, was passiert war. Hesters Mut stand nicht in Zweifel, ebensowenig ihre Qualitäten als Krankenschwester.
Und dann begann sich ein Gedanke in seinem Kopf zu formen, zunächst noch in vagen Umrissen. Vorsichtig, seinen Gehalt prüfend, versuchte er ihn Argyll zu erklären, suchte dabei nach Worten und faßte erst ganz langsam, als er das Leuchten in Argylls Augen sah, Vertrauen zu seiner Idee.
Als das Gericht sich zur nachmittäglichen Sitzung versammelt hatte, saß er hinter Argyll, am selben Platz wie vormittags, aber jetzt spürte er einen Funken der Erregung in sich, etwas, das man beinahe mit Hoffnung verwechseln konnte.
»Ich rufe Florence Nightingale«, dröhnte die Stimme des Gerichtsdieners, und überall im Saal hielt man den Atem an. Eine Frau im Publikum stieß einen Schrei aus und erstickte ihn, indem sie beide Hände vors Gesicht schlug.
Der Richter knallte den Hammer auf den Tisch. »Ich bitte um Ruhe! Noch so ein Ausbruch, und ich lasse den Saal räumen. Haben das alle verstanden? Dies ist ein Gericht und kein Variete! Mr. Argyll, ich hoffe, die Zeugin hat etwas zu dem Fall zu sagen und dient nicht bloß dem Versuch, die Sympathie der Öffentlichkeit zu gewinnen. Ich versichere Ihnen, damit kommen Sie nicht durch! Für die Verhandlung gegen Miss Latterly ist Miss Nightingales Ruf von keinerlei Bedeutung!«
Argyll verbeugte sich höflich, sagte aber nichts.
Alle Augen waren auf die Tür gerichtet; Hälse reckten sich, Oberkörper wurden verdreht, weil jeder die schlanke, aufrechte Gestalt sehen wollte, die nun hereinkam, ohne nach rechts oder links zu blicken durch den Saal schritt und die Stufen zum Zeugenstand hinaufstieg. Sie war keine eindrucksvolle Erscheinung. Sie sah höchst gewöhnlich aus, mit bräunlichem, glatt und streng nach hinten frisiertem Haar, dünnen Augenbrauen und regelmäßigen Zügen.
Mit klarer und fester Stimme sprach sie die Eidesformel und wartete, daß Argyll das Wort an sie richtete.
»Ich
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