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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Richter. Es war deutlich zu spüren, daß sie diesmal auf Argylls Seite waren.
    Der Richter hatte schmale Lippen vor Zorn, aber er kannte das Gesetz. »Fahren Sie fort«, sagte er kurz.
    »Danke, Euer Ehren.« Argyll neigte den Kopf und wandte sich wieder an Moncrieff. »Dr. Moncrieff, ich wiederhole meine Frage: Was für eine Meinung haben Sie von Miss Latterlys beruflichen Fähigkeiten gewonnen?«
    »Eine äußerst hohe, Sir«, antwortete Moncrieff, ohne zu zögern. »Auf dem Schlachtfeld, wo sie zwischen den kämpfenden Parteien unter Einsatz ihres Lebens die Verwundeten versorgte, hat sie außerordentlichen Mut bewiesen. Sie hat viele Stunden gearbeitet, oft den ganzen Tag und noch die halbe Nacht, ohne sich um ihre eigene Erschöpfung und ihren Hunger zu kümmern. Und sie hat sehr viel Initiative bewiesen. Ich finde es sehr bedauerlich, daß man Frauen nicht zu Medizinerinnen ausbildet. So manche Krankenschwester hat erfolgreiche Operationen durchgeführt, wenn gerade kein Chirurg in der Nähe war. Sie mußten Musketenkugel und Granatsplitter entfernen und sogar Arme und Beine amputieren, die auf dem Schlachtfeld zertrümmert worden waren. Miss Latterly hat nicht davor zurückgeschreckt.«
    Argylls Miene trug das angemessene Erstaunen zur Schau.
    »Wollen Sie damit sagen, Sir, daß sie Chirurgin war… unten auf der Krim?«
    »In extremen Situationen, ja. Die Chirurgie erfordert eine ruhig Hand, ein gutes Auge, Kenntnisse der Anatomie und gute Nerven. Und alle diese Eigenschaften besitzen Frauen ebensogut wie Männer.«
    »Blödsinn!« rief jemand im Publikum.
    »Um Gottes willen, Sir!« platzte einer der Geschworenen heraus – und lief dunkelrot an.
    »In der Tat eine ungewöhnliche Meinung, Sir«, erklärte Argyll.
    »Der Krieg ist eine ungewöhnliche Beschäftigung, Gott sei’s gedankt«, erwiderte Moncrieff. »Wäre er eine gewöhnliche, die Menschheit hätte sich längst eliminiert. Aber so widerwärtig der Krieg auch ist, gelegentlich bringt er Fähigkeiten zum Vorschein, von deren Existenz wir sonst nichts wüßten. Männer wie Frauen schwingen sich zu Höhen des Mutes und des Geschicks auf, zu denen die Ruhe des Friedens sie niemals anspornen würde. Sie haben mich aufgefordert, mich über Miss Latterlys Charakter zu äußern, Sir. In aller Aufrichtigkeit kann ich nur sagen, daß ich sie als tapfere, ehrliche, ihrem Beruf ergebene, mitfühlende und dabei nicht sentimentale Frau erlebt habe. Auf der anderen Seite, damit Sie mich nicht für voreingenommen halten, war sie rechthaberisch und gelegentlich vorschnell im Urteil über jene, die sie für unfähig hielt.« Er lächelte reumütig. »Leider hatte sie oft genug Grund zu solchen Urteilen. Ihr Humor ließ manchmal den rechten Takt vermissen. Sie konnte diktatorisch, willkürlich und – wenn sie müde war – ziemlich unausstehlich sein.
    Aber ich kenne niemanden, der sie jemals habgierig oder rachsüchtig erlebt hätte. Sie war auch nicht eitel oder selbstgefällig. Mein Gott, machen Sie doch die Augen auf.« Er beugte sich über das Geländer des Zeugenstands und zeigte mit dem Arm auf die Anklagebank. Jeder Kopf im Saal folgte seiner Bewegung. »Sieht so eine Frau aus, die wegen einer Brosche einen Mord begeht?«
    Selbst Rathbone warf jetzt einen Blick auf Hester: Verhärmt, grau im Gesicht, das Haar nach hinten gebunden, saß sie da in ihrem blaugrauen Kittel.
    Argyll lächelte. »Nein, Sir, sicher nicht. Ich muß gestehen, Sie haben recht, ein bißchen mehr Eitelkeit könnte ihr nicht schaden. Ich fürchte, daran fehlt es ihr.«
    Es entstand Unruhe im Saal. Henry Rathbone lächelte matt. Monk knirschte mit den Zähnen.
    »Vielen Dank, Dr. Moncrieff«, sagte Argyll schnell. »Ich habe keine weiteren Fragen.«
    Gilfeather erhob sich langsam, beinahe schwerfällig.
    »Dr. Moncrieff«, begann er leise. »Ich nehme an, nur wenige von uns können sich den Schrecken und die Entbehrungen vorstellen, denen Sie und Ihre Mitarbeiter im Sanitätsbereich während des Krieges ausgesetzt waren. Es muß wirklich entsetzlich gewesen sein. Sie erwähnten den Hunger, die Kälte, die Erschöpfung und die Angst. Und das alles ist wahr, keine finstere Übertreibung?«
    »Keineswegs«, erwiderte Moncrieff vorsichtig. »Sie haben ganz recht, Sir. Es sind Erfahrungen, von denen man sich keine Vorstellung machen kann.«
    »Eine entsetzliche Tortur für all jene, die dem ausgesetzt sind.«
    »Ja, Sir.«
    »Ich nehme an, Sie könnten mir das alles nur auf eine höchst

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