Dunkler Grund
wieder ein junges Mädchen, gefangen im Körper einer alten Frau. »Ich weiß noch genau, von welchem Geist wir damals beseelt waren. Jeden Tag rechneten wir mit der Invasion. Alle hatten wir die Augen nach Osten gerichtet. Wir hatten Wächter auf den Felsen postiert und Leuchtfeuer vorbereitet, die entzündet werden sollten, sobald der erste Franzose seinen Fuß an Land setzte. Entlang der ganzen Küste hielten sie Ausschau und warteten, Männer, Frauen, Kinder, die selbstgemachten Waffen griffbereit. Wir hätten gekämpft, bis auch der letzte von uns tot gewesen wäre, niemals hätten wir uns ergeben.«
Hester sagte nichts. Ihr Leben lang war England sicher gewesen. Die Angst vor fremden Soldaten, die durch die Straßen marschierten, Häuser in Brand setzten, Fluren und Bauernhöfe verwüsteten, konnte sie sich zwar vorstellen, aber sie hatte sie niemals selber gehabt. Noch während der schlimmsten Tage auf der Krim, als die alliierten Armeen alle Kämpfe verloren, hatte sie immer gewußt, daß England selber friedlich, uneinnehmbar und – abgesehen von privater Trauer – vom Krieg verschont bleiben würde.
»Die Zeitungen haben grausige Karikaturen von ihm veröffentlicht.« Marys Lächeln wurde für einen Moment breiter, dann verschwand es. »Mütter haben ihren unartigen Kindern gedroht, ›Boney‹ würde sie holen. Man erzählte sich, er würde kleine Kinder verspeisen; auf manchen Karikaturen riß er den Mund sperrangelweit auf, hatte Messer und Gabel in der Hand und Europa vor sich auf dem Teller.«
Beinahe im Schrittempo schnaufte der Zug einen steilen Anstieg hinauf. Eine männliche Stimme rief etwas Unverständliches. Ein Pfeifen ertönte.
»Später, als ich in Edinburgh schon eigene Kinder hatte«, fuhr Mary fort, »wurde den Ungehorsamen mit Geschichten von Burke und Hare gedroht. Sonderbar, finden Sie nicht, wieviel gruseliger einem das heute erscheint. Die beiden Iren fingen damit an, einem Arzt Leichen zu verkaufen, damit er seine Studenten in Anatomie unterrichten konnte. Später plünderten sie Gräber, und schließlich töteten sie Menschen.«
Der Zug fuhr wieder schneller. Sie sah Hester fragend an.
»Warum eigentlich läßt einem ein Mord, dessen Leiche zerlegt werden soll, das Blut so viel stärker gefrieren als ein Raubmord? Achtzehnhundertneunundzwanzig kam alles heraus, und Burke wurde gehängt. Hare wurde nicht hingerichtet. Soviel ich weiß, ist er noch am Leben! Ich kann mich erinnern, daß uns einmal ein Hausmädchen davongelaufen ist. Wir haben nie erfahren, wo sie geblieben ist, wahrscheinlich ist sie mit einem Mann durchgebrannt, aber die anderen Hausangestellten haben erzählt, sie wäre Burke und Hare in die Hände gefallen und irgendwo zerstückelt worden!«
Sie wickelte sich den Schal fester um die Schultern, obwohl es im Abteil nicht kälter geworden war. Ihre Füße lagen auf dem Fußwärmer, die Beine hatte sie fest in die Decke gewickelt.
»Alastair war damals zwölf.« Sie biß sich auf die Lippe. »Und Oonagh war sieben, alt genug, um zu verstehen, was für ein Entsetzen diese Geschichten verbreiteten. Einmal, es war gegen Ende des Winters, gab es in einer Nacht ein furchtbares Gewitter. Ich hörte den Donner und stand auf, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Ich fand die beiden zusammen in Oonaghs Zimmer, sie saßen aufrecht im Bett, in eine Decke gewickelt, bei Kerzenlicht. Ich wußte, was passiert war. Alastair hatte einen Alptraum gehabt. Er hatte manchmal welche. Er war zu ihr ins Zimmer geschlichen, angeblich, um nach ihr zu sehen, in Wirklichkeit aber wollte er von ihr getröstet werden. Sie hatte auch Angst. Ich sehe ihr Gesicht noch vor mir, ganz blaß und mit großen Augen, aber sie erzählte Alastair gerade, daß man Burke gehängt hatte und daß er mausetot war.« Mary stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Sie war so sehr davon überzeugt, daß sie es ihm in allen Einzelheiten schilderte.«
Hester konnte es sich gut vorstellen. Zwei Kinder sitzen beisammen, jedes gibt vor, dem anderen Mut zu machen, und dann erzählen sie sich flüsternd von schrecklichen Dingen wie Leichenräubern, heimlichen Morden in dunklen Gassen und dem blutigen Tisch des Pathologen. Mit ihrem Bruder Charles hatte sie keine solchen Augenblicke erlebt. Er hatte immer Angst gehabt, sich etwas zu vergeben, schon als kleines Kind. Mit James hatte sie solche Abenteuer erlebt, Geheimnisse geteilt. Aber James war auf der Krim gefallen.
»Tut mir leid«, sagte Mary leise, und
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