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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihre Stimme unterbrach Hester in ihren Gedanken. »Ich habe etwas gesagt, das Ihnen Kummer macht.« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
    Hester war verblüfft. Sie hatte geglaubt, Mary würde sie nur am Rande wahrnehmen, und jetzt registrierte sie sogar ihre Gefühle.
    »Nicht gerade zartfühlend von mir, Leichenraub zum Thema zu machen«, sagte Mary reumütig.
    »Das ist es nicht!« versicherte ihr Hester. »Ich habe an die beiden Kinder gedacht, und dabei ist mir mein jüngerer Bruder eingefallen. Mein älterer Bruder war immer ein bißchen eingebildet, aber mit James hatte ich viel Spaß.«
    »Sie sprechen in der Vergangenheitsform von ihm. Ist er… gestorben?« Marys Stimme klang auf einmal sehr sanft, als seien Trauerfälle ihr nur zu vertraut.
    »Ja. Auf der Krim gefallen«, antwortete Hester.
    »Das tut mir leid. Es wäre töricht zu behaupten, ich wüßte, was Sie empfinden, aber ich kann’s mir vorstellen. Einer meiner Brüder ist in Waterloo gefallen.« Sie sprach das Wort vorsichtig aus, ließ es von der Zunge rollen, als enthielte es ein Geheimnis. Viele Menschen in Hesters Alter hätten das nicht verstanden, aber sie hatte zu viele Soldaten darüber reden hören, um bei dem Namen nicht zu erschauern. Es war die größte Landschlacht in Europa gewesen, das Ende eines Kaiserreichs, die Zerstörung eines Traums, der Beginn der modernen Zeit. Männer aus allen Nationen hatten dort bis zur Erschöpfung gekämpft, bis das Schlachtfeld mit den Toten und Verwundeten übersät war – die Armeen Europas, wie Lord Byron es ausgedrückt hatte, »in einem roten Begräbnis vereint«.
    »Ich war damals in Brüssel«, sagte Mary mit einem melancholischen Lächeln. »Mein Mann war bei der Armee, als Major der Royal Scots Greys…«
    Den Rest verstand Hester nicht. Das Geratter der Räder verschluckte Marys Worte, und sie stellte sich den Mann mit dem blonden Haarschopf auf dem Porträt in der Halle vor, dessen Gesicht, das so viele Gefühle gleichzeitig, so viel doppeldeutige Kraft und Verwundbarkeit verriet. Man konnte ihn sich leicht vorstellen: Groß, aufrecht, schneidig und elegant in seiner Uniform, durchtanzte er die Nacht in einem Brüsseler Ballsaal, immer in dem Wissen, daß er am nächsten Morgen in eine Schlacht reiten mußte, die das Schicksal von Nationen entscheiden würde, eine Schlacht, aus der viele Tausende gar nicht und noch mehr blind oder als Krüppel zurückkehren würden. Und dann dachte sie an das Gemälde, das eine Attacke der Royal Scot Greys in Waterloo zeigte, an das Licht, das auf die weißen Pferde fiel, die sich in die Schlacht stürzten, die wehenden Mähnen, die scharlachroten, über die Hälse der Tiere gebeugten Reiter, den Staub und den Pulverqualm, der über allem lag und den Hintergrund verdunkelte.
    »Er muß ein sehr guter Mann gewesen sein«, sagte Hester ganz impulsiv.
    Mary schaute sie überrascht an. »Hamish?« Sie seufzte leise.
    »O ja, das war er. Es kommt mir vor, wie in einer anderen Welt, so lange ist das her. Waterloo. Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht.«
    »Er hat die Schlacht überlebt, oder?« Sie scheute sich nicht, diese Frage zu stellen, denn sie wußte, daß er erst vor acht Jahren gestorben war, und die Schlacht bei Waterloo hatte vor zweiundvierzig Jahren stattgefunden.
    »Er hat ein paar Schnitte und Prellungen davongetragen, aber keine richtige Verwundung«, erwiderte Mary. »Hector wurde von einer Muskete in die Schulter getroffen, und ein Säbelhieb hat ihm das Bein aufgerissen, aber er ist schnell wieder genesen.«
    »Hector?« Warum war sie so erstaunt? Vor zweiundvierzig Jahren mochte dieser Hector ein ganz anderer Mann gewesen sein als der Trunkenbold, der er jetzt war.
    Marys Blick war weit entrückt, traurig und sanft und voller Erinnerungen. »O ja, Hector war Captain. Er war ein besserer Soldat als Hamish, aber weil er der jüngere Bruder war, hat ihm sein Vater nur das Patent eines Captains gekauft. Er hatte nicht das Auftreten Hamishs, nicht dessen Charme, und nach dem Krieg war es Hamish, der Phantasie und Ehrgeiz entwickelte. Er hat die Buchdruckerei Farraline gegründet.« Sie mußte nicht extra erwähnen, daß er als der Ältere alles Geld geerbt hatte, das zur Verfügung stand. Das wußte ohnehin jeder.
    »Sein Tod ist sicher ein großer Verlust gewesen«, sagte Hester laut.
    Das Leuchten in Marys Augen erlosch, und ihre Miene wurde wieder sachlich, als wäre es für sie etwas Alltägliches geworden,

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