Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Beileidsbezeigungen entgegenzunehmen. »Natürlich«, antwortete sie. »Danke, daß Sie das sagen.«
    Sie richtete sich ein wenig auf. »Aber wir haben jetzt lange genug über eine Vergangenheit geredet, die so weit zurückliegt. Ich würde gerne etwas über Ihre Erfahrungen hören. Haben Sie Miss Nightingale persönlich kennengelernt? Man liest dieser Tage so viel über sie. Ich bin sicher, in manchen Kreisen verehrt man sie mehr als die Königin. Ist sie wirklich so außergewöhnlich?«
    Beinahe eine halbe Stunde lang bemühte sich Hester, ihre Erinnerungen so lebhaft wie möglich zu schildern. Sie erzählte Mary vom Leiden und Tod, von der Dummheit und der ständigen Angst, von der schneidenden Winterkälte, dem Hunger, der Erschöpfung durch die Belagerung. Mary hörte ihr aufmerksam zu, unterbrach sie nur, um genauere Einzelheiten zu erfahren, nickte hin und wieder abwesend. Hester beschrieb die Hitze und das Flimmern des Sommers, die weißen Schiffe in der Bucht, den Glanz der Offiziere und ihrer Gattinnen, die goldenen Tressen im Sonnenlicht, die Langeweile, die Kameradschaft, das Lachen und die vielen Anlässe, bei denen sie sich das Weinen verkneifen mußte, weil sie sonst nicht wieder aufgehört hätte. Und dann erzählte sie, auf Marys ausdrücklichen Wunsch, mit plastischer Genauigkeit, Witz und Humor von den einzelnen Menschen, die sie bewundert oder verachtet, geliebt oder gehaßt hatte, und die ganze Zeit über hörte ihr Mary mit gespannter Aufmerksamkeit zu, den klaren Blick auf Hesters Gesicht gerichtet, während der Zug holperte und ratterte, an Steigungen langsamer fuhr und anschließend wieder beschleunigte. Sie waren vollständig isoliert in einer Welt aus Lampenlicht, rhythmischem Geratter und schwankender Bewegung; die dunkle Landschaft hinter den Fenstern blieb unsichtbar. Sie waren in warme Decken gewickelt, ihre Füße auf dem steinernen Fußwärmer berührten sich beinahe.
    Einmal legte der Zug einen richtigen Halt ein, und sie kletterten beide in die kalte Nachtluft hinaus, nicht so sehr, um sich die Beine zu vertreten, auch wenn ihnen das ganz willkommen war, sondern um die sanitären Einrichtungen des Bahnhofs zu nutzen.
    Als sie wieder im Zug waren, die Pfeife trillerte und Dampfschwaden am Fenster vorbeiwehten, wickelten sie sich wieder in ihre Decken, und Mary bat Hester, mit ihrem Bericht fortzufahren.
    Hester tat ihr den Gefallen.
    Es war nicht ihre Absicht gewesen, aber plötzlich erzählte sie sehr engagiert von den Idealen, von denen sie nach ihrer Rückkehr erfüllt gewesen war, von ihrem leidenschaftlichen Wunsch, die altmodischen englischen Krankenhausstationen mit ihren rückständigen Methoden zu reformieren.
    Mary lächelte melancholisch. »Wenn Sie jetzt behaupten, Sie hätten damit Erfolg gehabt, beginne ich an Ihren Worten zu zweifeln.«
    »Und Sie täten recht daran! Man hat mich leider wegen Amtsanmaßung und unbefugten Handelns entlassen.« Sie hätte es lieber für sich behalten. Es war kaum dazu geeignet, einer Patientin Vertrauen einzuflößen, aber Mary war bereits weit mehr als eine Patientin. Und die Worte waren heraus, bevor sie darüber nachgedacht hatte.
    Mary lachte. Es war ein lautes, vergnügtes Lachen.
    »Bravo. Wenn wir immer nur tun würden, was man uns aufträgt, hätten wir noch nicht mal das Rad erfunden! Was haben Sie dagegen unternommen?«
    »Unternommen?«
    Mary legte den Kopf ein wenig auf die Seite, das Gesicht drückte Skepsis aus.
    »Nun sagen Sie bloß, Sie haben die Entlassung wie ein braves Mädchen akzeptiert und sind Ihrer Wege gegangen! Sie werden doch etwas dagegen unternommen haben!«
    »Also… eigentlich…« Langsam machte sich Ratlosigkeit auf Marys Gesicht breit. »Nein. Ich hatte andere Kämpfe auszufechten«, fuhr Hester hastig fort. »Für… eine andere Art von Gerechtigkeit.«
    Sofort erwachte Marys Interesse wieder. »Ach?«
    »Äh… ich…« Warum sollte sie nicht darüber reden, daß sie Monk geholfen hatte? Es war in keiner Weise unehrenhaft, die Polizei zu unterstützen. »Ich habe einen Polizeiinspektor kennengelernt, der den Mord an einem Offizier untersuchen mußte, und es sah so aus, als sollte es dabei zu einem schrecklichen Justizirrtum kommen…«
    »Und Sie haben mitgeholfen, das zu verhindern?« Mary hatte es sogleich begriffen. »Aber danach haben Sie sich doch sicher wieder der Reform der Krankenpflege zugewandt.«
    »Nun…« Hester spürte, wie sie leicht errötete. Sie hatte Monks Gesicht mit den

Weitere Kostenlose Bücher