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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Geschwindigkeit fort. »Ich glaube, es ist schade, wenn man die schönen Dinge seines Lebens als zu junger Mensch erlebt, man hat es viel zu eilig, um sie wirklich verstehen zu können. Es ist schlimm, wenn man erst viel später merkt, was man Wunderbares erlebt hat.«
    Hester dachte so gründlich über diesen Gedanken nach, daß sie völlig vergaß zu antworten.
    »Aber Sie haben auch weite Reisen gemacht«, sagte Mary, den Blick ihrer hellen Augen auf Hester gerichtet. »Und viel interessantere noch als ich – jedenfalls größtenteils. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, würde ich liebend gern etwas über Ihre Erlebnisse dort unten hören. Ich muß gestehen, daß mir die ungehörigsten Fragen durch den Kopf gehen. Es ist sicher nicht schicklich, so viele Fragen zu stellen, aber in meinem Alter kümmert es einen nicht mehr so sehr, was schicklich ist.«
    Oft hatte man Hester unbedachte Fragen gestellt, die auf falschen Vorstellungen beruhten. Die meisten Leute wußten nur das, was sie in der Zeitung gelesen hatten. Die Fähigkeit der Presse, kritische Betrachtungen anzustellen, mochte zwar gestiegen sein, trotzdem war nur sehr wenig über das wirkliche Leiden, das wirkliche Entsetzen in den Zeitungen zu lesen.
    »Ruft es schreckliche Erinnerungen in Ihnen wach?« fragte Mary rasch und mit lebhafter Anteilnahme.
    »Nein, gar nicht«, antwortete Hester, mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung. Sie hatte viele, zum Teil drastische Erinnerungen, aber nur selten hatte sie das Bedürfnis gespürt, sie zu verdrängen. »Ich fürchte nur, sie könnten für jemand anderen uninteressant sein, weil ich viele Dinge so stark empfunden habe und zu viel über das Unrecht rede; darüber kommen vielleicht andere interessante Einzelheiten zu kurz.«
    »Ich bin nicht an einem ausgewogenen, sachlichen Bericht interessiert. Den kann ich auch in der Zeitung lesen.« Mary schüttelte energisch den Kopf. »Erzählen Sie mir von Ihren Gefühlen. Was hat Sie am meisten überrascht? Was war das Beste und was das Schlimmste?« Sie machte eine geringschätzige Handbewegung. »Ich meine nicht das Leid der Menschen. Darüber mache ich mir ohnehin keine Illusionen. Ich meine für Sie selbst.«
    Der Zug rollte in einem stetigen Rhythmus dahin, eine Gleichmäßigkeit, die etwas Tröstliches hatte.
    »Die Ratten«, antwortete Hester ohne zu zögern. »Das Geräusch der Ratten, die von den Wänden auf den Fußboden fielen. Und wenn man völlig durchgefroren erwachte.« Die Erinnerung war sehr deutlich, als sie davon erzählte, die Gegenwart und die Behaglichkeit der warmen Decke verschwammen dahinter. »Es war nicht so schlimm, wenn man auf den Beinen war und herumlief und überlegte, was man als nächstes zu tun hatte – aber nachts zu erwachen und so sehr zu frieren, daß man nicht wieder einschlafen konnte, egal, wie müde man war – das ist mir am stärksten im Gedächtnis geblieben.« Sie lächelte. »Im Warmen aufzuwachen, sich die Decke um die Schultern zu ziehen, nur das Geräusch des Regens vorm Fenster zu hören und zu wissen, daß außer einem selbst kein lebendes Wesen im Zimmer ist – das ist ein wundervolles Gefühl.«
    Mary lachte, ein volles, vergnügtes Lachen. »Was ist die Erinnerung doch für eine unberechenbare Fähigkeit. Die seltsamsten Dinge bringen einem Zeiten und Orte ins Gedächtnis zurück, die man lange vergessen glaubte.« Sie lehnte sich in ihren Sitz zurück, mit entspanntem Gesicht, den Blick in eine weit entfernte Vergangenheit gerichtet. »Wissen Sie, ich wurde im Jahr nach dem Sturm auf die Bastille geboren…«
    »Dem Sturm auf die Bastille?« Hester war verwirrt.
    Mary sah sie nicht an, ihr Blick richtete sich in die Vergangenheit, die plötzlich so plastisch vor ihr aufgestiegen war. »Die Französische Revolution, Louis XVI., Marie Antoinette, Robespierre…«
    »Aber ja, natürlich!«
    »Was waren das für Zeiten! Der Kaiser hatte ganz Europa unterworfen.« Ihre Stimme war vor andächtiger Erinnerung ganz leise geworden, vor dem lauten Geratter der Räder war sie kaum noch zu verstehen. »Er war keine dreißig Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Kanals, nur unsere Marine stand zwischen seinen Truppen und englischem Boden – und natürlich auch schottischem.« Ihr Lächeln wurde breiter, und trotz der Falten in ihrem Gesicht und der silberfarbenen Haare, gingen eine Frische und eine Unschuld von ihr aus, als wären alle Jahre dazwischen ausgelöscht, als wäre sie für einen Augenblick

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