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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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überlege er es sich offensichtlich anders und richtete sich wieder auf. »Griselda wird dich natürlich abholen.«
    »Und wir holen dich ab, wenn du zurückkommst, Mutter«, fügte Eilish mit flüchtigem Lächeln hinzu.
    »Wohl kaum, meine Liebe.« Quinlans Miene ließ keinen Zweifel an seinen Gefühlen. »Morgens um halb neun! Wann wärst du jemals so früh aufgestanden?«
    »Das schaff ich schon… wenn mich jemand weckt«, verteidigte sich Eilish.
    Baird öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben.
    Oonagh runzelte die Stirn. »Natürlich schaffst du’s, wenn du es willst.« Sie wandte sich wieder an Mary. »Also, Mutter, hast du alles, was du brauchst? Gibt es hier keine Fußwärmer?« Sie sah hinunter zum Fußboden, und Hester folgte ihr mit dem Blick. Fußwärmer. Was für ein beglückender Gedanke. Auf der Herfahrt waren ihre Füße so kalt geworden, daß sie sie kaum noch gespürt hatte.
    »Laßt euch welche bringen.« Quinlan hob die Augenbrauen.
    »Es muß ja welche geben!«
    »Gibt es auch«, antwortete Oonagh, bückte sich und zog eine große, steinerne Flasche unter dem Sitz hervor. Sie war mit heißem Wasser und einer Chemikalie gefüllt, die bei heftigem Schütteln etwas von der Wärme wiederherstellen würde, die bis zum Morgen verlorenging. »Siehst du, Mutter, sie ist schön warm. Leg deine Füße darauf. Baird, wo ist die Reisedecke?«
    Gehorsam reichte er sie ihr, sie nahm sie und half Mary, sich in die Decke zu wickeln. Eine zweite Decke legte sie auf dem anderen Sitz zusammen. Niemand beachtete Hester, von der man anscheinend nicht erwartete, daß sie mit ihrem Dienst begann, bevor sie tatsächlich abgefahren waren. Sie hob ihre Reisetasche ins Gepäcknetz, setzte sich auf die Sitzbank gegenüber und wartete.
    Nach und nach waren alle Abschiedsformeln aufgesagt, und sie zogen sich auf den Gang zurück, nur Oonagh blieb noch.
    »Auf Wiedersehen, Mutter«, sagte sie leise. »Ich werde mich um alles kümmern während deiner Abwesenheit und alles so machen, wie du es tun würdest.«
    »Ach, mein Schatz!« Mary lächelte belustigt. »Du kümmerst dich doch schon die ganze Zeit um den ganzen Haushalt. Ich kann dir versichern, daß ich noch nie Grund zur Klage hatte!«
    Oonagh küßte sie sanft, dann wandte sie sich zu Hester um; ihr Blick war sehr direkt und sehr klar. »Auf Wiedersehen, Miss Latterly.« Gleich darauf war sie verschwunden.
    Ein ironisches Lächeln lag auf Marys Gesicht, als amüsierten sie ihre letzten Worte.
    »Machen Sie sich Sorgen?« fragte Hester schnell. Vielleicht konnte sie die alte Dame ein wenig beruhigen. Mary Farraline war nicht nur ihre Patientin, sie war auch ein Mensch, zu dem sie eine natürliche Zuneigung gefaßt hatte.
    Mary hob kaum merklich die Schultern. »Ach nein, eigentlich nicht. Ich wüßte keinen vernünftigen Grund. Ist Ihnen auch warm genug, meine Liebe? Bitte, nehmen Sie doch die andere Decke.« Sie deutete darauf. »Die hat Oonagh für Sie mitgebracht. Wieso haben sie uns nicht beiden einen Fußwärmer gegeben?« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge. »Aber wir werden auch mit einem zurechtkommen. Setzen Sie sich doch gegenüber, und stellen Sie Ihre Füße auf die andere Hälfte. Keine Widerrede! Ich kann mich doch nicht wohl fühlen, wenn ich weiß, daß Sie frieren. Ich bin schon oft mit dem Zug gefahren. Ich kenne die Unannehmlichkeiten.«
    »Sind Sie viel gereist?« fragte Hester, während sie sich so hinsetzte, wie Mary es angeordnet hatte, und die Füße, die schon ganz kalt waren, auf den segensreichen Fußwärmer stellte.
    Draußen schlugen die Türen, der Gepäckträger rief etwas, aber seine Stimme ging in einem Dampfzischen unter. Mit Klappern und Ruckein setzte der Zug sich in Bewegung, wurde allmählich schneller, und dann rollten sie aus der Bahnhofshalle hinaus in die Dunkelheit der Landschaft.
    »Früher«, antwortete Mary mit sehnsüchtigem Blick auf Hesters Frage. »Ich war überall: in London, Paris, Brüssel, Rom. Sogar in Neapel und Venedig. Italien ist wunderschön.« Sie lächelte, die Erinnerung hellte ihr Gesicht auf. »Jeder Mensch sollte einmal im Leben in Italien gewesen sein. Am schönsten ist es, wenn man so um die Dreißig ist. Dann ist man alt genug, um zu spüren, wie wunderbar dieses Land ist, wie sehr seine Vergangenheit bis in die Gegenwart wirkt, und man ist noch jung genug, um das Leben zu genießen.« Ein heftiger Ruck ging durch den Zug, dann setzte er die Fahrt mit höherer

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