Dunkler Grund
war die Haut kalt. Mrs. Farraline war seit Stunden tot.
3
Hesters erstes Gefühl war das eines schweren Verlustes. Früher hätte sie es einfach nicht wahrhaben wollen, hätte sich geweigert zu glauben, daß Mary tot ist, aber inzwischen war sie dem Tod zu oft begegnet, um ihn nicht zu erkennen, auch wenn er ohne Vorwarnung kam. Gestern abend noch war Mary bei bester Gesundheit und geistig hellwach gewesen, und doch mußte sie bereits früh in der Nacht gestorben sein. Ihr Körper fühlte sich kalt an, und es dauerte vier bis sechs Stunden, bis die Leichenstarre ein solches Stadium erreichte.
Hester zog die Decke über den Körper, bedeckte vorsichtig das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Der Zug fuhr bereits langsamer, und im frühen, grauen Morgen hinter den verregneten Fenstern waren Häuser zu erkennen.
Und dann überfiel sie das nächste Gefühl: Schuld. Mary war ihre Patientin gewesen, ihrer Obhut anvertraut, und schon nach ein paar Stunden war sie tot. Warum? Warum hatte sie so versagt? Was hatte sie falsch gemacht oder vergessen, daß Mary einfach gestorben war, ohne einen Laut, ohne Schrei, ohne ein Röcheln, ohne nach Atem zu ringen? Oder hatte Hester es nicht gehört, weil sie zu fest geschlafen hatte und die Geräusche vom Rattern des Zuges verschluckt worden waren?
Sie konnte nicht hier stehenbleiben und auf die regungslose Gestalt unter der Decke starren. Sie mußte es melden, zuerst dem Zugführer und dem Schaffner und dann, wenn sie den Bahnhof erreicht hatten, dem Stationsvorsteher, vielleicht sogar der Polizei. Und danach – zweifellos die schwerste Aufgabe – mußte sie es Griselda Murdoch beibringen. Beim Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um.
Besser gleich anfangen. Das Herumstehen half nicht weiter, und das Grübeln machte alles nur noch schlimmer. Wie benommen tastete sie sich zur Tür des Abteils, in ihrer Unbeholfenheit – sie fror und war ganz steif vor Anspannung – stieß sie mit dem Ellbogen gegen die Trennwand. Der Schmerz war heftiger als erwartet, aber sie hatte keine Zeit dafür. In welche Richtung sollte sie gehen? Ganz egal. Hauptsache etwas tun, nicht unentschlossen herumstehen. Sie wandte sich nach links, in Richtung der Lokomotive.
»Schaffner! Schaffner! Wo sind Sie?«
Ein Offizier mit Schnauzbart streckte den Kopf um eine Ecke und starrte sie an. Er wollte etwas sagen, aber sie war schon vorbei.
»Schaffner!«
Eine sehr magere Dame mit grauen Haaren musterte sie mit strengem Blick. »Herrgott, junge Frau, was ist denn los? Müssen Sie solchen Lärm machen?«
»Haben Sie den Schaffner gesehen?« fragte Hester atemlos.
»Nein, habe ich nicht. Aber mäßigen Sie um Himmels willen Ihre Lautstärke.« Ohne weiteren Kommentar zog sie sich in ihr Abteil zurück.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
Sie fuhr herum. Endlich, der Schaffner, ein freundliches Gesicht. Er ahnte noch nichts von dem Schrecklichen, das sie ihm gleich berichten mußte. Vielleicht war er an hysterische Frauenzimmer gewöhnt. Sie bemühte sich, mit ruhiger, kontrollierter Stimme zu sprechen.
»Ich fürchte, es ist etwas sehr Ernstes geschehen…« Warum zitterte sie so? Sie hatte doch Hunderte von Toten in ihrem Leben gesehen.
»Ja, Miss, und das wäre?« Er war noch immer ungerührt, zeigte höfliches Interesse.
»Ich fürchte, Miss Farraline, die Dame, mit der ich gereist bin, ist in der Nacht gestorben.«
»Ach, wahrscheinlich schläft sie nur, Miss. Manche Leute haben einen festen…«
»Ich bin Krankenschwester!« fuhr Hester ihn an, ihre Stimme wurde schriller. »Ich weiß, wann jemand tot ist!«
Jetzt hatte sie ihn gründlich aufgestört. »Lieber Gott! Sind Sie ganz sicher? Eine ältere Dame, sagen Sie? Das Herz, nehm’ ich an. Ist ihr wohl schlecht gegangen, was? Sie hätten mich rufen müssen.« Er sah sie mißbilligend an.
Unter anderen Umständen hätte sie ihn gefragt, was er dann getan hätte, aber sie war viel zu verwirrt, um zu streiten.
»Nein, nein. Sie war ganz ruhig gestern abend. Ich hab’ es bemerkt, als ich sie wecken wollte.« Ihre Stimme zitterte wieder, und ihre Lippen waren beinahe zu steif, um die Worte richtig zu formen. »Ich weiß nicht… was passiert ist. Ich vermute, es war das Herz. Sie mußte ein Medikament nehmen.«
»Und das hat sie vergessen, stimmt’s?« Er sah sie unschlüssig an.
»Nein, natürlich nicht! Ich hab’s ihr ja selber gegeben. Sollten Sie nicht lieber dem Zugführer Bescheid sagen?«
»Alles zu seiner Zeit, Miss. Sie
Weitere Kostenlose Bücher