Dunkler Grund
nicht mehr viel Gelegenheit für Gespräche sein. Kurz nach neun würden sie in London ankommen, und dann mußten sie aussteigen, das Gepäck zusammensuchen und nach Griselda und Mr. Murdoch Ausschau halten.
»Nein«, antwortete Mary vergnügt, auch wenn sie bereits das eine oder andere Gähnen unterdrückt hatte. »Sicher hat Oonagh gesagt, ich müßte mich spätestens um elf schlafen legen. Ja, das hab’ ich mir gedacht. Ich glaube, Oonagh wäre eine gute Krankenschwester. Sie ist von Natur aus intelligent und tüchtig, das geschickteste meiner Kinder. Darüber hinaus besitzt sie die Fähigkeit, die Menschen auf ihre Art von etwas zu überzeugen, daß sie hinterher glauben, es wäre ihre ureigenste Idee gewesen.« Sie verzog ein wenig das Gesicht. »Das ist eine große Kunst, wissen Sie? Wie oft hab’ ich mir gewünscht, das auch zu können. Und sie hat ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen. Ich war erstaunt, wie schnell Quinlan gelernt hat, sie zu respektieren. Es kommt nicht häufig vor, daß ein Mann seines Schlages Respekt vor einer Frau hat, zumal, wenn sie ungefähr in seinem Alter ist. Und er meint es so – ich spreche hier nicht von gutem Benehmen, wie er es mir gegenüber hat.«
Hester glaubte es ihr. Weder Quinlans Entschlossenheit noch die Intelligenz hinter den flinken blauen Augen waren ihr entgangen. Er konnte nichts Besseres tun, als sich Oonagh vor allen anderen in der Familie zur Freundin zu machen. Baird verachtete ihn ganz offensichtlich, und Deirdra war er gleichgültig; sie interessierte sich nur für ihre eigenen Belange, und wenn man Mary glauben durfte, dann verließ sich Alastair auf Oonaghs Urteil, seit sie Kinder waren.
»Ja, das glaube ich gern«, stimmte Hester ihr zu. »Ein gutes Urteilsvermögen und diplomatisches Talent kann man in einer großen Familie immer gebrauchen. Wie oft entscheidet so etwas über Glück oder Unglück.«
»Wie recht Sie haben, meine Liebe.« Mary nickte. »Aber leider scheint das nicht jeder zu begreifen.«
Hester lächelte nur. Sie war nicht so unkultiviert, sich ihres eigenen Gespürs zu rühmen.
»Sie werden eine angenehme Zeit in London verbringen«, sagte sie. »Ich nehme an, Sie werden außer Haus speisen und ins Theater gehen.«
Mary zögerte mit ihrer Antwort. »Da bin ich nicht ganz sicher«, sagte sie nachdenklich. »Ich kenne Connal Murdoch und seine Familie nicht besonders gut. Er ist ein sehr förmlicher junger Mann, dem die Wünsche anderer Menschen nicht gleichgültig sind. Griselda wird vielleicht nicht mitkommen wollen. Aber sollten wir ins Theater gehen, dann – fürchte ich – wird es ein biederes Stück sein und kein sehr anregendes.«
»Vielleicht will er einen guten Eindruck auf Sie machen«, meinte Hester. »Schließlich sind Sie seine Schwiegermutter, und es kann ihm nicht gleichgültig sein, was Sie für eine Meinung von ihm haben.«
»Mein Gott«, seufzte Mary und biß sich auf die Lippe. »Ich nehme alles zurück. Sie haben ja recht. Ich weiß noch, als Baird und Oonagh frisch getraut waren, war er so schüchtern – es tat einem in der Seele weh, und dabei war er so verliebt damals.« Sie seufzte tief. »Natürlich nutzt eine solche Liebe sich ab; wenn man sich besser kennt, ist das Geheimnis gelüftet, und die Gewohnheit ersetzt das Staunen. Richtig leidenschaftlich und aufgeregt ist man nur eine kurze Weile.«
»Und dann kommt wohl die Freundschaft, die Herzenswärme …« Hesters Stimme erstarb. Sie spürte selber, wie naiv sie redete. Ihre Wangen röteten sich wieder.
»Man hofft es«, sagte Mary leise. »Und wenn man Glück hat, dann leben die Zärtlichkeit und das Verständnis weiter und auch das Lachen, die Erinnerung.« Sie sah durch Hester hindurch, während sie redete, als wären die Worte an etwas in ihrer Vorstellung gerichtet.
Hester rief sich den Mann auf dem Bild noch einmal ins Gedächtnis; sie fragte sich, wann das Porträt entstanden sein mochte, und versuchte sich vorzustellen, welche Spuren die Zeit in das Gesicht gegraben hatte, wie der Alltag ihm nach und nach den jugendlichen Glanz genommen hatte. Es gelang ihr nicht. Es war noch zu vieles in seinem Gesicht, das ihr unerklärlich blieb, ein Lächeln und Gefühle, die für alle Zeiten nur ihm allein gehören würden. Hatte Mary das auch gespürt und ihn deshalb bis zum Ende geliebt? Hester würde es nie erfahren, und es ging sie auch nichts an. Monk war auch so jemand. Man würde ihn nie so gut kennenlernen, daß er einen nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher