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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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überraschen, einem keine Leidenschaften oder Überzeugungen offenbaren konnte, von denen man doch nichts wußte.
    »Idealismus ist kein guter Bettgenosse«, sagte Mary plötzlich.
    »Das muß ich Griselda klarmachen, dem armen Kind, und vor allem dem Mann, den sie geheiratet hat! Wenn man vor den Altar tritt, sind sie alle noch Märchenprinzen, aber spätestens am nächsten Morgen wachen wir neben höchst gewöhnlichen Sterblichen auf. Und da wir selbst auch gewöhnliche Sterbliche sind, ist das zweifellos richtig so.«
    Gegen ihren Willen lächelte Hester. Sie wollte aufstehen.
    »Es ist spät geworden, Mrs. Farraline. Meinen Sie, ich sollte Ihnen jetzt Ihre Medizin geben?«
    »Sollten Sie das?« Mary zog die Augenbrauen in die Höhe.
    »Wahrscheinlich. Aber ich bin noch nicht bereit, sie zu nehmen. Um auf Ihre anfängliche Frage zurückzukommen, ja, ich glaube, ich sollte ins Theater gehen. Ich sollte darauf bestehen. Ich habe ein paar Abendkleider für solche Gelegenheiten dabei. Unglücklicherweise konnte ich mein Lieblingskleid nicht mitnehmen. Es ist aus Seide, und es hat einen Fleck, vorne, wo er deutlich zu sehen ist.«
    »Kann man es nicht reinigen lassen?« fragte Hester voller Mitgefühl.
    »Sicher, aber vor meiner Abreise war nicht mehr genug Zeit dazu. Nora wird sich während meiner Abwesenheit darum kümmern. Aber außer der Tatsache, daß es mir gefällt, ist es das einzige Kleid, auf dem meine graue Perlenbrosche so richtig zur Geltung kommt. Sie ist sehr hübsch, aber graue Perlen lassen sich nicht leicht tragen. Sie brauchen einen schlichten Hintergrund. Aber es macht nichts. Es ist ja nur eine Woche, und so viele offizielle Anlässe wird’s auch wieder nicht geben. Schließlich will ich mich nicht ins Londoner Gesellschaftsleben stürzen, sondern Griselda besuchen.«
    »Ich nehme an, sie findet es aufregend, ihr erstes Kind zu kriegen.«
    »Bis jetzt noch nicht«, sagte Mary und verzog ein wenig das Gesicht. »Aber das wird noch kommen. Ich fürchte, sie sorgt sich viel zu sehr um ihre Gesundheit. Dabei fehlt ihr eigentlich nichts.« Mary erhob sich schließlich doch, und Hester sprang auf, um ihr den Arm zu reichen. »Danke, meine Liebe«, sagte Mary. »Bei jedem kleinen Wehwehchen glaubt sie, das Kind könnte einen irreparablen Schaden davontragen. Das ist eine schlechte Angewohnheit, und zwar eine, die die Männer nicht mögen, es sei denn, sie sind nicht ganz normal!« Sie stand am Eingang zum Abteil, schlank und sehr aufrecht, ein Lächeln auf den Lippen. »Davor will ich Griselda warnen! Und ihr versichern, daß sie keine Angst haben muß. Ihr Kind wird vollkommen gesund sein.«
    Der Zug verlangsamte wieder sein Tempo, und als sie den Bahnhof erreicht hatten, stiegen sie beide aus, um die sanitären Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Hester war als erste zurück im Abteil. So gut es ging, säuberte sie die Sitzbänke, breitete für Mary die Decke aus und schüttelte den Fußwärmer noch einmal auf. Es war ziemlich kühl geworden, und die Dunkelheit hinter dem Fenster war mit Regentropfen gesprenkelt. Sie zog die Arzneischatulle aus dem Gepäcknetz und klappte sie auf. Die Phiolen lagen in ordentlichen Reihen; die erste war bereits geöffnet, das Fläschchen war leer. Das war ihr in Edinburgh gar nicht aufgefallen, aber durch das getönte Glas konnte man die Flüssigkeit nur schwer erkennen. Nora mußte sie am Morgen geöffnet haben. Wie dumm von ihr. Jetzt hatten sie eine zu wenig. Aber sie ließ sich bestimmt ersetzen. Sie mußte Mary nur rechtzeitig Bescheid sagen.
    Nur mit Mühe konnte sie ein Gähnen unterdrücken. Sie war wirklich sehr müde. Seit sechsunddreißig Stunden hatte sie nicht mehr richtig geschlafen. Heute nacht durfte sie die Füße hochlegen und sich ausruhen, statt aufrecht zwischen zwei anderen Fahrgästen zu sitzen. »Oh, Sie haben schon alles vorbereitet.« Mary stand in der Tür. »Sie haben recht. Es wird schnell genug Morgen.« Beim Eintreten schwankte sie ein wenig; der Zug hatte sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung gesetzt und wurde jetzt immer schneller.
    Hester reichte ihr die Hand, und Mary setzte sich.
    Der Schaffner erschien in der Tür, die Knöpfe an seiner makellosen Uniform funkelten.
    »’n Abend, meine Damen. Alles in Ordnung bei Ihnen?« Er tippte sich an den Mützenschirm.
    Mary hatte aus dem Fenster in die Nacht gestarrt, auch wenn es dort außer strömendem Regen und Finsternis nicht viel zu sehen gab. Nachdem sie sich wieder umgedreht

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