Dunkler Grund
hatte, war sie für einen Moment blaß geworden, bevor Erleichterung sich auf ihrem Gesicht breitmachte.
»O ja, danke.« Sie atmete kurz durch. »Ja, ja, es ist alles in Ordnung.«
»Ist recht, Ma’am. Dann wünsch’ ich eine gute Nacht. London Viertel nach neun.«
»Jawohl, danke. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, fügte Hester hinzu, als er sich flink zurückzog; er bewegte sich mit seltsamer Unbeholfenheit, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
»Alles in Ordnung?« fragte Hester ängstlich. »Hat er Sie erschreckt? Vielleicht sind Sie ein bißchen spät mit Ihrer Medizin dran. Ich muß darauf bestehen, daß Sie sie jetzt nehmen. Sie sehen ziemlich blaß aus.«
Mary zog die Decke über sich, und Hester wickelte sie darin ein.
»Ja, mit mir ist alles in bester Ordnung«, sagte Mary mit fester Stimme. »Dieser elende Kerl hat mich an jemanden erinnert, diese lange Nase und die braunen Augen. Ich hab’ einen Moment gedacht, es ist Archie Frazer.«
»Jemand, den Sie nicht mögen?« Hester zog den Pfropfen aus der Phiole und schüttete die Flüssigkeit in das kleine Glas.
»Ich kenne den Mann nicht persönlich.« Mary kräuselte angewidert die Lippen. »Er war einer der Zeugen im Fall Galbraith zumindest hätte es ein Fall werden sollen, wenn er vor Gericht gekommen wäre. Die Klage wurde abgewiesen. Aus Mangel an Beweisen, hat Alastair gesagt.«
Hester reichte ihr das Glas, sie nahm es, trank es leer und verzog leicht das Gesicht. Oonagh hatte ein paar Süßigkeiten eingepackt. Hester bot ihr eine davon an, und sie akzeptierte dankbar.
»Dann war dieser Mr. Frazer eine Person von öffentlichem Interesse?« Sie redete weiter über die Sache, um Mary vom Geschmack der Arznei abzulenken. Das Glas stellte sie an seinen Platz zurück, klappte den Deckel zu und hob die Schatulle wieder ins Gepäcknetz.
»Mehr oder weniger.« Mary legte sich hin und machte es sich so bequem, wie es ihr möglich war. Hester wickelte sie noch etwas fester in die Decke.
»Eines Abends hat er uns zu Hause besucht«, fuhr Mary fort.
»Er war wie eine Ratte, dieser Kerl. Ist bei uns rein und rausgehuscht wie ein nächtliches Geschöpf, das nichts Gutes im Schilde führt. Ich hab’ ihn im Licht der Lampen gesehen, wie diesen elenden Schaffner eben, die arme Seele. Ich tu’ ihm sicher unrecht.« Sie lächelte. »Und diesem Frazer vielleicht auch.« Aber sie klang wenig überzeugt. »Und jetzt legen Sie sich auch hin. Ich weiß gut, wie nötig Sie es haben. Man wird uns rechtzeitig wecken, damit wir aufstehen und uns für London ein bißchen zurechtmachen können.«
Hester sah hinauf zu der Öllampe, die das Abteil in ein weiches, gelbliches Licht tauchte. Man konnte sie nicht kleiner drehen, aber sie bezweifelte, daß ihr sanfter Schein eine von ihnen am Schlaf hindern würde.
Sie streckte sich auf ihrer Bank aus und war schon nach ein paar Minuten eingeschlafen.
Mehrmals wachte sie auf, aber nur, um es sich bequemer zu machen und zu bedauern, daß es nicht ein bißchen wärmer war. Ihr Schlaf war unruhig, sie träumte von der Krim, von Kälte und Übermüdung, und doch mußte sie wach bleiben, um denen helfen zu können, denen es so unermeßlich viel schlechter ging.
Schließlich wachte sie erschrocken auf. Der Schaffner stand in der Tür und sah sie vergnügt an.
»’ne halbe Stunde noch bis London, Ma’am. Wünsche einen guten Morgen!« sagte er und war schon wieder verschwunden.
Sie war steif und durchgefroren. Langsam erhob sie sich. Ihr Haar war offen, ein paar Haarnadeln waren herausgefallen, aber das war das wenigste. Sie mußte Mary wecken, die immer noch zugedeckt war und mit dem Gesicht zur Wand lag, so wie sie eingeschlafen war. Sie schien sich kaum bewegt zu haben. Die Decke war kein bißchen verrutscht.
»Mrs. Farraline«, sagte sie so fröhlich, wie es ihr möglich war. »Wir sind bald in London. Haben Sie gut geschlafen?«
Mary rührte sich nicht.
»Mrs. Farraline?« Keine Regung.
Hester legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte sie vorsichtig. Alte Menschen haben manchmal einen sehr festen Schlaf. »Mrs. Farraline!«
Die Schulter gab kein bißchen nach; sie schien völlig steif zu sein.
Angst stieg in ihr auf.
»Mrs. Farraline! Wachen Sie auf! Wir sind gleich in London!« rief sie mit wachsender Eindringlichkeit.
Mary rührte sich immer noch nicht.
Mit einem kräftigen Ruck riß Hester sie herum. Sie hatte die Augen geschlossen, das Gesicht war weiß wie Schnee, und als Hester sie berührte,
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