Dunkler Grund
bringen mich jetzt zu Ihrem Abteil, damit ich sie mir ansehen kann. Vielleicht ist es nur ein Unwohlsein.« Wenig Hoffnung klang aus seinen Worten, er wollte den Augenblick der Gewißheit nur hinausschieben.
Gehorsam drehte Hester sich um und ging voran. An der Tür blieb sie stehen und ließ ihm den Vortritt. Er zog Mary die Decke vom Gesicht, warf einen kurzen Blick auf sie, deckte sie wieder zu und kam hastig wieder heraus.
»Ja, Miss, ich fürchte, Sie haben recht. Die arme Frau ist mausetot. Ich sage dem Zugführer Bescheid. Sie bleiben hier. Und daß Sie mir nichts anrühren, verstanden?«
»Ja.«
»Gut. Setzen Sie sich lieber hin. Nicht, daß sie uns noch ohnmächtig werden.«
Hester wollte ihm sagen, daß sie nicht ohnmächtig werden würde, aber sie verzichtete darauf. Sie fühlte sich schwach auf den Beinen und war froh, sich setzen zu können.
Es war kalt im Abteil, und obwohl der Zug ratterte und ruckelte, kam es ihr sehr still vor. Mary lag ihr gegenüber auf der Sitzbank, nicht mehr in der bequemen Stellung, in der sie gestern abend eingeschlafen war, sondern halb umgedreht, wie Hester sie zurückgelassen hatte. Der Schaffner hatte ihr nach oben gerichtetes Gesicht gesehen. Es war absurd, jetzt über Bequemlichkeit nachzudenken, trotzdem fiel es Hester schwer, nicht aufzustehen und ihren Körper in eine natürlichere Stellung zu bringen. Sie hatte Mary vom ersten Augenblick an gemocht. Ihre Vitalität und ihre Offenheit hatten ihr sehr gefallen, und es war bereits so etwas wie Zuneigung in Hester erwacht.
Sie wurde in ihren Gedanken durch das Eintreffen des Zugführers unterbrochen. Er war ein kleiner Mann mit buschigem Schnauzbart und kummervollen Augen. Vorne auf der Uniformjacke hatte sein Schnupftabak einen Flecken hinterlassen.
»Traurige Angelegenheit«, sagte er betrübt. »Sehr traurig. Feine Dame, zweifellos. Ja, aber jetzt kann ihr keiner mehr helfen, der armen Seele. Wo wollten Sie mit ihr hin?«
»Sie wollte ihre Tochter und ihren Schwiegersohn besuchen«, antwortete Hester. »Die beiden erwarten sie am Bahnhof…«
»Du meine Güte. Na ja, kann man nichts machen.« Er schüttelte den Kopf. »Erst lassen wir alle andern Fahrgäste aussteigen, dann sagen wir dem Stationsvorsteher Bescheid. Der wird ihre Tochter schon finden. Wie heißt sie? Wissen Sie, wie die Tochter heißt, Miss?«
»Mrs. Griselda Murdoch. Ihr Gatte ist Mr. Connal Murdoch.«
»Sehr gut. Der Zug ist voll besetzt, fürchte ich. Kann Ihnen leider kein anderes Abteil anbieten. Aber wir sind ja gleich in London. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben.« Er wandte sich an den Schaffner. »Haben Sie was für die junge Dame, was zur Beruhigung oder so?«
Der Schaffner hob die buschigen Augenbrauen. »Ob ich hochprozentige Getränke bei mir habe, Sir?«
»Natürlich nicht«, ging es dem Zugführer glatt von der Zunge.
»Das wäre ja gegen die Vorschriften. Ich dachte mehr an eine Medizin gegen Kälte und Schock. Für die Fahrgäste und so.«
»Nun…« Der Schaffner sah in Hesters fahles Gesicht. »Nun, ich schätze, da ließe sich schon was finden… eine Art…«
»Gut. Dann gehen Sie mal nachsehen, Jake, und wenn Sie was organisiert haben, dann geben Sie der Dame einen kräftigen Schluck, in Ordnung?«
»Jawohl, Sir! In Ordnung!«
Nachdem er den verbotenen Brandy »organisiert« hatte, brachte er Hester eine bis zum Rand gefüllte Tasse. Dann brummte er etwas von dienstlichen Pflichten in seinen Bart und trollte sich. Erst nach einer Viertelstunde, in der es Hester schrecklich fror und die schlimmsten Gedanken ihr durch den Kopf gingen, stand der Stationsvorsteher in der Tür. Er hatte rötlichbraunes Haar, machte ein mitfühlendes, neugieriges Gesicht und hatte offensichtlich eine schwere Erkältung.
»Also, Miss«, sagte er und nieste heftig. »Dann erzählen Sie mal ganz genau, was der bedauernswerten Frau zugestoßen ist. Wer ist sie? Und darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Die Dame ist Mrs. Mary Farraline aus Edinburgh«, erwiderte Hester. »Und ich bin Hester Latterly. Ich war beauftragt, sie von Edinburgh nach London zu begleiten, um ihr ihre Arznei zu verabreichen und dafür zu sorgen, daß es ihr an nichts fehlt.« Das hörte sich ziemlich scheinheilig an, beinahe lächerlich.
»Verstehe. Was ist das für eine Arznei, Miss?«
»Ein Herzmittel, glaube ich. Man hat mir keine Einzelheiten über ihren Zustand mitgeteilt, nur daß sie regelmäßig ihre Medizin braucht, und wann und zu welcher Zeit sie sie
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