Dunkler Grund
an Griselda.
»Ich bin Hester Latterly. Man hat mich als Begleitung für Mrs. Farraline engagiert. Ich habe leider sehr schlimme Nachrichten für Sie. Gestern abend noch war Ihre Mutter gutgelaunt und schien bei bester Gesundheit zu sein, doch während der Nacht ist sie im Schlaf gestorben. Ich glaube nicht, daß sie gelitten hat, denn sie hat weder gerufen…«
Griselda starrte sie an, als hätte sie nicht ein einziges Wort begriffen.
»Mutter?« Sie schüttelte den Kopf. »Was reden Sie da! Sie wollte nach London kommen, um mir etwas zu sagen, ich weiß nicht, was! Aber sie hat gesagt, daß alles gut wird! Das hat sie gesagt! Sie hat es mir versprochen.« Hilflos drehte sie sich zu ihrem Ehemann um.
Er ignorierte sie und starrte Hester an.
»Was soll das heißen? Das ist doch keine Erklärung! Wenn Mrs. Farraline gestern abend bei bester Gesundheit war, dann kann sie doch nicht…«, er suchte nach einem passenden Ausdruck, »einfach so heimgegangen sein – ohne… Um Himmels willen, ich dachte, Sie sind Krankenschwester! Wozu gibt man ihr eine Krankenschwester mit, wenn so etwas dabei herauskommt? Sie sind ja noch schlimmer als nutzlos!«
»Ich bitte Sie, Sir«, versuchte der Bahnhofsvorsteher zu beschwichtigen. »Wenn die Dame schon im fortgeschrittenen Alter war und ein schwaches Herz hatte, dann muß man doch immer mit dem Schlimmsten rechnen. Man sollte dankbar sein, daß sie nicht gelitten hat.«
»Nicht gelitten? Sie ist tot, Mann!« platzte Murdoch heraus. Griselda schlug die Hände vors Gesicht und brach auf einem hölzernen Stuhl zusammen.
»Sie darf nicht tot sein«, klagte sie. »Sie wollte mir sagen… nein, das ist unmöglich! Sie hat’s mir doch versprochen!«
Murdoch sah sie an, aus seinem Gesicht sprachen Verwirrung, Zorn und Hilflosigkeit. Er suchte bei der Möglichkeit Zuflucht, die man ihm bot.
»Komm, meine Liebe, es ist nicht ganz falsch, was der Herr Bahnhofsvorsteher sagt. Und wenn es noch so unerwartet kam, wir müssen dankbar sein, daß sie nicht gelitten hat. So scheint es wenigstens.«
Griselda sah ihn entsetzt an. »Aber sie hat mir nicht… ich meine, ich habe ja nicht mal einen Brief! Es ist furchtbar wichtig! Sie hätte doch niemals… Mein Gott, wie entsetzlich!« Sie begrub das Gesicht wieder in den Händen und fing an zu weinen.
Murdoch sah den Bahnhofsvorsteher an.
»Sie müssen verstehen, meine Frau hat ihre Mutter verehrt. Das ist ein furchtbarer Schock für sie.«
»Aber sicher, Sir«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Ist doch klar. Würde uns allen so gehn, und dann erst einer so empfindsamen jungen Dame.«
Griselda sprang plötzlich auf. »Ich will sie sehen!« verlangte sie energisch.
»Ich bitte dich, meine Liebe!« protestierte Murdoch und griff nach ihren Schultern. »Das wäre bestimmt nicht gut. Du brauchst jetzt Ruhe. Du mußt an deinen Zustand denken…«
»Ich muß aber!« Sie befreite sich und baute sich vor Hester auf, ihr Gesicht war so blaß, daß die Sommersprossen auf ihren Wangen wie Schmutzflecken hervortraten. Ihre Augen funkelten wild. »Was hat sie zu Ihnen gesagt?« wollte sie wissen. »Sie muß doch was gesagt haben! Etwas über den Zweck ihres Besuchs, über mich! Hat sie denn nichts gesagt?«
»Nur, daß sie Ihnen Mut zusprechen und Ihnen versichern wollte, daß Sie sich keine Sorgen machen müssen«, sagte Hester leise. »Davon war sie fest überzeugt. Daß Sie keine Angst haben müssen.«
»Aber warum?« erwiderte Griselda verzweifelt, mit erhobenen Händen, als wollte sie Hester packen und schütteln und traute sich nur nicht. »Sind Sie sicher? Vielleicht hat sie’s nicht so gemeint! Vielleicht wollte sie bloß… ich weiß nicht… besonders nett sein!«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Hester voller Überzeugung.
»So wie ich Mrs. Farraline kennengelernt habe, hat sie nicht irgend etwas erzählt, nur um jemanden zu beruhigen. Sie hätte lieber gar nichts gesagt, als eine Unwahrheit. Natürlich machen Sie eine schrecklich schwere Zeit durch, aber vielleicht sollten Sie einfach darauf vertrauen, daß Sie keinen Grund zur Sorge haben.«
»Meinen Sie?« sagte Griselda eifrig. »Meinen Sie das wirklich, Miss…«
»Latterly. Ja, das meine ich wirklich.«
»Nun komm, Liebes«, beschwichtigte Connal. »Das ist doch jetzt nicht so wichtig. Wir müssen uns um andere Dinge kümmern. Du mußt an deine Familie in Edinburgh schreiben. Es gibt jetzt so viel zu tun.«
Griselda drehte sich zu ihm um, als hätte er in einer fremden
Weitere Kostenlose Bücher