Dunkler Grund
Tasche und stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß Callandra zu Hause sein möge und nicht unterwegs bei einer ihrer zahlreichen Unternehmungen. Bis dahin hatte sie sich geweigert, über diese Möglichkeit nachzudenken, aber jetzt erschien sie ihr so wahrscheinlich, daß sie noch auf der Treppe im Regen stehenblieb, unschlüssig, mit klammen Füßen und triefnassen Röcken.
Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Also zog sie am Klingelknopf und wartete.
Die Tür öffnete sich, aber der Butler brauchte einen Moment, um sie zu erkennen.
»Guten Morgen, Miss Latterly.« Ihm schien noch etwas auf der Zunge zu liegen, aber er verkniff es sich.
»Guten Morgen. Ist Lady Callandra zu Hause?«
»Jawohl, Ma’am. Wenn Sie bitte eintreten wollen, dann melde ich Sie.« Er trat auf die Seite, um Hester hereinzulassen. Angesichts ihrer durchnäßten Kleidung zog er die Stirn in Falten. Mit spitzen Fingern nahm er ihr die Tasche aus der Hand und stellte sie ab. Dann entschuldigte er sich und ließ Hester ungerührt dort stehen, wo sie das gebohnerte Parkett volltropfte.
Callandra erschien persönlich, das ungewöhnliche Gesicht mit der langen Nase voller Sorge. Wie gewöhnlich wollte ihr störrisches Haar sich den Nadeln nicht fügen, und ihr grünes Kleid wirkte eher bequem als elegant. Früher, als sie noch jünger und schlanker war, hatten die weiten Röcke ihr gut gestanden, aber jetzt konnten sie eine gewisse Fülle um die Hüften herum nicht mehr verdecken und machten sie kleiner, als sie tatsächlich war. Doch ihr Auftreten war wie immer beeindruckend, und ihr Humor und ihre Intelligenz entschädigten mehr als reichlich für den Mangel an Schönheit.
»Sie sehen schrecklich aus, meine Liebe!« rief sie besorgt aus.
»Was, um Himmels willen, ist passiert? Ich dachte, Sie wären nach Edinburgh gefahren. Ist die Reise ins Wasser gefallen?« Fürs erste ignorierte sie den durchnäßten Rock, das zerknitterte Kleid und das Haar, das nicht weniger in Unordnung war wie ihr eigenes. »Sie sehen ja richtig mitgenommen aus!«
Hester lächelte, so sehr erleichterte sie der Anblick Callandras. Er erfüllte sie mit einer Wärme, die tiefer ging als jede körperliche Empfindung, es war wie eine Heimkehr nach langer Reise.
»Ich war in Edinburgh. Ich bin mit dem Nachtzug zurückgekommen. Meine Patientin ist gestorben.«
»O mein Gott, das tut mir leid«, sagte Callandra schnell.
»Noch vor Ihrer Ankunft? Wie entsetzlich! Na ja, aber… oh, je …« Sie sah Hester in die Augen. »Ich habe etwas falsch verstanden, stimmt’s? Ist sie in Ihrer Obhut gestorben?«
»Ja…«
»Es war nicht recht von den Leuten, Sie mit einem todkranken Menschen loszuschicken«, konstatierte sie mit Entschiedenheit.
»Die arme Frau, so weit fort von zu Hause zu sterben, und dazu noch in einem Zug. Sie müssen sich entsetzlich fühlen, meine Liebe. Man sieht es Ihnen an.« Sie nahm Hesters Arm.
»Kommen Sie herein, und setzen Sie sich. Der Rock ist ja triefnaß. Meine Sachen passen Ihnen nicht. Sie müssen wohl mit einem Kleid meines Hausmädchens vorliebnehmen. Bis Ihres wieder trocken ist, wird es schon gehen. Sonst holen Sie sich noch den…« Sie schwieg und machte ein sorgenvolles Gesicht.
»Den Tod«, sagte Hester mit dem Anflug eines Lächelns. »Ich danke Ihnen.«
»Daisy!« rief Callandra mit lauter Stimme. »Daisy, komm bitte sofort her!«
Ein schlankes, dunkles Mädchen kam zur Eßzimmertür herein, einen Staubwedel in der Hand; das Spitzenhäubchen saß ihr ein wenig schief auf dem Kopf.
»Ja, Euer Ladyschaft?«
»Du hast ungefähr Miss Latterlys Größe. Bitte, sei so gut und leih ihr eins von deinen Kleidern, bis ihres wieder trocken ist. Weiß der Teufel, was sie damit angestellt hat, aber es ist tropfnaß, und sie friert sich zu Tode darin. Ach, und bring ihr doch bitte auch ein Paar trockene Schuhe und Strümpfe. Und dann sag bitte Cook, daß er uns im grünen Salon eine heiße Schokolade servieren soll.«
»Sehr wohl, Euer Ladyschaft.« Sie fabrizierte so etwas wie einen Knicks, gab Hester mit einem Blick zu verstehen, daß sie alle Instruktionen begriffen hatte und ging voraus, um den Auftrag auszuführen.
Zehn Minuten später war Hester wieder da; sie trug ein graues Stoffkleid, das ihr ausgezeichnet paßte, nur daß es ein paar Zentimeter zu kurz war und die geborgten Schuhe und Strümpfe sehen ließ. Sie setzte sich zu Callandra an den Kamin.
Es war eins ihrer Lieblingszimmer
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