Dunkler Grund
mit Mr. Farraline oder Mrs. McIvor gesprochen.« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche.
»Tatsächlich, Sir?« Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Veränderung. Er hielt Monk ein silbernes Tablett hin. Monk legte sein Kärtchen darauf. Offensichtlich war er nicht Leichenbestatter, sondern Butler. »Danke, Sir. Wenn Sie so gut wären, im Foyer zu warten. Ich werde nachsehen, ob Mrs. McIvor sie empfangen kann.«
Er wartete in der mit schwarzem Krepp verhangenen Halle, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend. Er hatte sich bereits zurechtgelegt, was er sagen würde, falls sie ihn nicht empfangen wollte; er hoffte allerdings, die Information, daß er extra aus London angereist war, wäre ausreichend. Weitere Einzelheiten hatten das Hauspersonal nicht zu interessieren.
Er mußte nicht lange warten. Nicht der Butler kam zurück, sondern eine schlanke, gerade gewachsene Frau Mitte Dreißig. Im ersten Augenblick erinnerte ihr Auftreten ihn an Hester; die geraden Schultern und die Haltung des Kopfes drückten den gleichen Stolz, die gleiche Entschlossenheit aus. Doch sie hatte ein ganz anderes Gesicht und blondes, honigfarbenes Haar von solch sanftem Schwung, wie er es noch nie gesehen hatte. Sie war nicht ausgesprochen schön, dazu war ihr Gesicht zu individuell ausgeprägt, der kräftige Unterkiefer und der kühle Blick der Augen entsprachen nicht dem konventionellen Ideal. Das mußte Oonagh McIvor sein.
»Mr. Monk.« Es war eine Bestätigung und keine Frage. Kaum hatte er ihre klare Stimme vernommen, da wußte er, diese Frau käme mit jeder auch noch so verzweifelten Situation zurecht.
»McTeer hat mir mitgeteilt, daß Sie aus London angereist sind, in einer Angelegenheit, in der Sie meine Hilfe brauchen. Hat er Sie richtig verstanden?«
»Ja, Mrs. McIvor.« Nach Hesters Beschreibung zweifelte er nicht daran, wen er vor sich hatte, deshalb hielt er es nicht für nötig zu fragen. Und er hatte auch nicht die geringsten Bedenken, sie anzulügen. »Ich arbeite im Auftrag der Anklage gegen Miss Latterly wegen des Mordes an Ihrer Frau Mutter; ich bin beauftragt, Fakten zu sichern, bekannte und noch zu ermittelnde, damit es weder Irrtümer noch andere unliebsame Überraschungen gibt, wenn die Sache vor Gericht kommt. Das Urteil hat endgültige Rechtskraft. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß der richtige Spruch gefällt wird.«
»Ach, tatsächlich?« Sie hob ganz leicht die Augenbrauen.
»Wie gewissenhaft. Ich hatte keine Ahnung, daß die englische Staatsanwaltschaft so gründlich ist.«
»Es ist ein Fall von großer Bedeutung.« Er sah sie direkt an, ohne auszuweichen oder sich höflich zurückzuhalten. Instinktiv spürte er, daß übermäßige Ehrerbietung ihr ein Graus war und sie Selbstbewußtsein zu schätzen wußte. Er durfte ihr nur keinen Grund liefern, ihn für impertinent zu halten, oder ihr Versprechungen machen, die er nicht halten konnte. Sie hatten sich eben erst kennengelernt, und doch hatten sie beide schon ein Gespür für die Persönlichkeit des anderen entwickelt, die auch von ihrer Seite – so schien es ihm – durchaus mit Interesse gepaart war.
»Ich bin froh, daß Sie sich dessen bewußt sind«, sagte sie. Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Lippen. »Natürlich wird meine Familie Ihnen jede nur erdenkliche Unterstützung geben. Mein älterer Bruder ist der Prokurator hier in Edinburgh. Wir wissen sehr wohl, daß die Anklage auch in Fällen, in denen die Schuldfrage zweifelsfrei geklärt scheint, das Ziel einer Verurteilung verfehlen kann, wenn die Verantwortlichen die Beweise nicht mit der erforderlichen Sorgfalt zusammentragen. Ich vermute, Sie können sich mit einem Schreiben legitimieren?«
Die Frage war höflich gestellt, duldete jedoch keine ausweichende Antwort.
»Selbstverständlich.« Er zog eine sehr überzeugende Fälschung heraus, die er auf einem Bogen Papier mit dem Briefkopf der Polizei vorbereitet hatte, von denen er noch einige besaß. Daß es das falsche Revier war, würde sie sicher nicht merken.
»Er erleichtert mir die Aufgabe ungemein, daß Sie Verständnis für meine Arbeit haben; wir müssen uns jeden Details versichern«, sagte er. »Ich gestehe, ich hatte nicht zu hoffen gewagt auf soviel…« Er zögerte, suchte nach einem Ausdruck, der sich nicht nach bloßer Schmeichelei anhörte. »… auf soviel Sinn für Realität zu stoßen«, beendete er den Satz.
Jetzt lächelte sie schon etwas weniger zurückhaltend, eine deutliche Wärme
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