Dunkler Grund
vergaß man in dem Augenblick, in dem man ihr Gesicht sah. Sie war eines der hübschesten Geschöpfe, die Hester je gesehen hatte. Ihre Gesichtszüge waren zart und fein und doch voller Leidenschaft. Sie hatte sehr helle Haut, und von dem dichten, vollen Haar, das sich wie ein Glorienschein um ihren Kopf schmiegte, ging jenes Leuchten aus, das der rötlichbraunen Tönung eigen ist. »Miss Latterly?«
»Ja«, antwortete Hester, um Fassung bemüht. Sie legte das Buch zur Seite.
»Ich bin Eilish Fyffe«, stellte die junge Frau sich vor. »Ich wollte Sie zum Lunch bitten. Ich hoffe doch, daß Sie mit uns essen?«
»Ja, sehr gerne.« Hester erhob sich und drehte sich um, weil sie das Buch zurückstellen wollte.
Eilish winkte ungeduldig ab. »Ach, lassen Sie doch! Jeannie wird es schon wegräumen. Sie kann zwar nicht lesen, aber den leeren Platz wird sie schon finden.«
»Jeannie?«
»Das Hausmädchen.«
»Ach! Ich dachte, sie wäre…« Hester hielt inne.
Eilish lachte. »Ein Kind? Nein… wenigstens… na ja, vielleicht doch. Sie ist eins der Hausmädchen. Sie behauptet, daß sie ungefähr fünfzehn ist. Dabei lernt sie gerade erst lesen.« Eilish zuckte die Achseln, als wollte sie das Thema damit beenden. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »Die Kinder sind Margaret und Catriona und Robert.«
»Mrs. McIvors?«
»Nein, nein. Alastairs. Das ist mein großer Bruder, der Prokurator.« Sie verzog dabei ein wenig das Gesicht, als hätte sie noch vor kurzem großen Respekt vor ihm gehabt. Hester dachte an ihren Bruder Charles und wußte genau, wie die junge Frau sich fühlte. Charles war immer ein bißchen furchteinflößend gewesen und hatte viel zu wenig Sinn für das Absurde. »Alec und Fergus sind in der Schule. Das sind Oonaghs Söhne. Ich nehme an, daß Robert auch bald in die Schule kommt.« Sie öffnete die Tür zur Halle. Von ihrer eigenen Familie sagte sie kein Wort, deshalb nahm Hester an, daß sie noch keine hatte. Vielleicht war sie noch nicht lange genug verheiratet.
Zum Lunch war der anwesende Teil der Familie vollständig versammelt, als Hester von Eilish in das Speisezimmer geführt wurde und einen Stuhl zugewiesen bekam. Mary Farraline saß am oberen Ende des Tisches, Oonagh am unteren. Deirdra hatte ihren Platz auf der anderen Seite, neben einem älteren Herrn, der dem Porträt in der Halle so sehr ähnelte, daß Hester ihn anstarrte. Er hatte auch dieses blonde Haar, das sich bereits stark lichtete, dieselbe helle Haut, die scharfgeschnittene Nase und den sensiblen Mund. Und trotzdem war der Mann ein ganz anderer. Auch er hatte eine verletzte Seele, aber er wirkte auf Hester nicht so grüblerisch, so ambivalent, wie der Mann auf dem Porträt; er wußte genau um das Leiden, das ihn beherrschte: Obwohl er es so gut kannte, hatte er sich ihm ergeben. Seine blauen Augen lagen tief, und wenn er den Blick hob, sah er dabei niemanden an. Hester stellte man ihn als Hector Farraline vor, genannt wurde er Onkel Hector.
Hester nahm Platz, und der erste Gang wurde serviert. Die Unterhaltung war höflich und belanglos: Sie diente dem Zweck, dem sie dienen sollte – man war guten Willens, ohne dabei allzu viele Gedanken zu verschwenden oder gar vom Essen abzulenken. Diskret sah sich Hester in der Runde der Gesichter um, die sich so ähnlich waren, auch wenn Lebensumstände und Charakter sie unterschiedlich geprägt hatten. Nur Deirdra und Mary waren keine geborenen Farralines. Die anderen waren groß, schlank und hell, während Deirdra klein und dunkel war und eher zur Körperfülle neigte. Und doch lag eine starke Konzentration, eine kontrollierte Erregung auf ihrem Gesicht; es strahlte eine Wärme aus, die den anderen fehlte. Sie antwortete, wenn die Höflichkeit es verlangte, aber sie trug selbst nichts zur Konversation bei. Offensichtlich war sie von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen.
Eilish sagte gelegentlich etwas, sie betrachtete es wohl als Gebot der Höflichkeit, doch zwischendrin schien auch sie ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Hester mußte immer wieder zu Eilish hinübersehen; wahrscheinlich weil sie so schön war, daß man einfach hinschauen mußte, vielleicht aber auch wegen der Traurigkeit, die sie hinter einer fadenscheinigen Maske aus Höflichkeit und Aufmerksamkeit zu erkennen glaubte.
So war es also Oonagh und Mary vorbehalten, ein allen genehmes, unstrittiges Thema nach dem anderen anzuschneiden.
»Wie lange bist du unterwegs, Schwiegermama?« wandte sich
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