Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
Blässe. Ihr Mund wirkte ein wenig strenger als sonst. Er dachte, so war sie doch nicht. Sie war mild wie Sahne, weich wie Butter. Er zog einen Stuhl ans Bett, aber nicht sehr dicht. Er brauchte ein wenig Distanz, mußte sich vorsichtig nähern. Er versuchte, etwas aus seiner Kindheit heraufzuholen, irgend etwas. Erdbeergrütze. Die kleinen braunen Hühner im Stall im Garten. Brotteig, der unter einem Handtuch in einer Schüssel auf dem Küchentisch stand; Beeren, die in einem Kessel gekocht wurden. Der Geruch von Obst und Zucker. Und ihre Stimme, die hörte er deutlich. Ihre weiche Aussprache, nach den vielen Jahren in Dänemark.
Konrad. Es ist spät.
Ihre Worte waren in seinem Ohr glasklar zu hören. Abends hatte sie immer mit ihrer Näherei unter einer Lampe gesessen. Er hatte unmöglich widersprechen und sagen können: Ich will noch nicht ins Bett. Dann hätte sie nur gelacht. Hätte sich langsam erhoben, ihn am Arm gepackt und in den ersten Stock gebracht, wo sein Bett stand. Daß ein so kleines und dünnes und sanftes Wesen eine solche Macht über ihn hatte! Aber das immer mit Liebe und zu seinem Besten. Daran hatte er nie gezweifelt. Er hob den Kopf und sah sie an. Dachte, daß sie schön war, immer schön gewesen war. Selbst jetzt noch. Und wenn sie so düster wirkte, dann vielleicht, weil sie vor der Himmelstür stand und etwas so Großes sah, daß es ihr die Sprache verschlug. Sie war immer schlagfertig gewesen. Aber ich bin doch nicht gläubig, dachte er plötzlich. Er befand sich im Ausnahmezustand, auf einem sinkenden Schiff. Langsam beugte er sich über das Bett. Ihre Hände waren nicht kalt, sie waren aber auch nicht warm, sie waren sehr trocken.
»Mutter«, sagte er leise.
Seltsam, das zu sagen und nie mehr eine Antwort zu erhalten. Er ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und dachte, er müsse machen, daß er nach Hause kam. Erhob sich, ließ den Stuhl aber stehen, als könne der ihr auch allein Gesellschaft leisten. Wieder schaute er auf die Uhr. 00.52. Er rechnete nach. Sieben Minuten. Die hatte er ihr zum Dank für alles gewidmet. Sieben Minuten für ein ganzes Leben. Lassen Sie sich Zeit. Er zitterte. Senkte beschämt den Kopf. Drehte sich um und ging zurück zu ihr. Setzte sich auf die Bettkante. Nahm die mageren Hände und hielt sie fest. Lange.
3. SEPTEMBER
Frau Winther war gealtert seit ihrem ersten Besuch. Ihr Zorn war verflogen und wachsender Panik gewichen. Die Panik zeigte sich in ihren Augen als flackerndes Licht.
»Daß Andreas noch immer nicht zu Hause ist, nehmen wir wirklich sehr ernst«, sagte Skarre teilnahmsvoll. »Aber wir haben Fälle von Leuten, die länger vermißt waren und doch wieder aufgetaucht sind. Es gibt immer eine Erklärung.«
Seine Worte machten keinen Eindruck.
»Jetzt ist es ernst«, stammelte sie. »Da ist etwas passiert.«
»Haben Sie mit seinem Vater gesprochen?«
Sie riß die Augen auf. »Den will ich da nicht mit hineinziehen.«
»Wir können Sie ja nicht zwingen. Aber ich möchte Ihnen doch energisch raten, den Vater zu informieren«, sagte Skarre. »Vielleicht kann er uns helfen?«
»Sie treffen sich so gut wie nie. Das weiß ich nun wirklich«, wehrte sie ab.
Skarre starrte ihr in die Augen. »Verzeihen Sie, daß ich das erwähne. Aber wenn Andreas etwas zugestoßen sein sollte – wie, glauben Sie, wird seinem Vater zumute sein, wenn er nicht informiert worden ist?«
»Aber großer Gott. Sie sagen doch, daß er wieder auftauchen wird! Was meinen Sie denn nun wirklich?«
Skarre strich sich über die Stirn. Die war schon schweißnaß. »Aus irgendeinem Grund ist er verschwunden. Seit vorgestern. Ich weiß nicht, warum. Aber Sie sollten das nicht allein tragen müssen.«
Sie rang die Hände, ihre Lippen formten Worte, die er nicht zu hören bekam.
»Verzeihung? Was haben Sie gesagt?«
»Na gut«, flüsterte sie.
»Wohnt er hier in der Stadt?«
»Ja. Sie müssen ihn anrufen, ich bringe das nicht über mich. Es gibt sicher nur Ärger.«
»Warum sollte es Ärger geben?« fragte Skarre vorsichtig.
»Wir reden nicht miteinander.«
»Aber es geht um Andreas«, sagte Skarre leise.
»Ja. Wir reden nicht miteinander, wenn es um Andreas geht.«
»Können Sie das genauer erklären?«
Sie schwieg.
»Wenn wir Ihnen helfen sollen, müssen Sie auch uns helfen. Warum gibt es Ärger?«
»Wir… er… Nicolai… sein Vater – er glaubt, daß Andreas jederzeit auf die schiefe Bahn geraten kann oder so. Er sagt, ich hätte keine Ahnung, was
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