Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
Erinnerungen.
Sejer flüsterte: »Kannst du das beschreiben?«
»Ich kann mich kaum erinnern.«
»Versuch es. Stell dir die Situation vor.«
»Ich sehe ein paar Bilder. Aber ich höre nichts.«
»Wie meinst du das?«
»Ich konnte die Musik nicht mehr hören. Und das Bild von Anders und Anita wurde besonders deutlich.«
»Besonders deutlich?«
»Ich sah Anita«, sagte Robert mit rauher Stimme. »Und alles andere war verschwunden. Sie tanzte mit Robert. Sie tanzten so langsam. Alles schien anzuhalten, Licht, Geräusche, ich konnte mich nicht bewegen, ich sah nur Anders und Anita. Sie hatte mich vergessen. Aber sie war ja ziemlich breit. Ich meine, wir wollten das ja nicht erwähnen, aber sie hatte mich vergessen«, sagte er verzweifelt.
»Aber Anders hatte dich nicht vergessen«, sagte Sejer.
»Er hat mich mit fiesem Lächeln angestarrt. Ich hatte Anders schon oft lächeln sehen, aber ich hatte nie weiter darüber nachgedacht. Er hat gelbe Zähne. Ich habe nicht zurückgelächelt. Ich konnte nur daran denken, daß alles stehengeblieben war.«
»Und dann?«
»Dann trat er zurück. Schob Anita weg. Und ich dachte, jetzt geht er. Aber das tat er nicht. Er hob die Hände und faßte Anita an den Busen. Langte so zu, daß ich es sehen mußte.«
»Und was tat Anita?«
»Na, sie war doch reichlich – sie lachte«, sagte er müde. »Sie lachte einfach. Und damit war der Moment schon gekommen. Ich mußte von vorn anfangen. Das kam mir unmöglich vor. Da hätte ich auch gleich sterben können.«
»Du hattest das Gefühl, daß du auch gleich sterben könntest?«
»Ja«, sagte Robert schlicht.
»Wieso hast du dann an das Schrotgewehr gedacht?«
Robert ließ sich Zeit. Gab sich Mühe. Die Anstrengung verschlug ihm den Atem.
»Als ich dachte, daß ich auch gleich sterben könnte. Da fiel mir ein, daß das Gewehr im Flur stand. Sterben geht schnell, es dauert nur eine Sekunde.«
»Das Gewehr ist dir also eingefallen, als du an den Tod gedacht hast?«
»Ja. Mein Vermieter hatte ein Schrotgewehr. Und mir fiel ein, daß das im Flur stand.«
»Hast du in der Sekunde, als du an das Gewehr dachtest, Anita angesehen?«
»Sie sahen so fremd aus. Es war so ein seltsames Licht.«
»Wieso seltsam?«
»So wie manchmal in der Disko. Ein blaues, metallisches Licht.«
»Was hast du gemacht?«
»Von dem Zimmer konnte ich nichts sehen, ich sah nur einen leuchtenden Weg zur Tür. Plötzlich stand ich auf dem Flur. Ich konnte noch immer nichts hören, fühlte nur ein leises Kribbeln. Wie Ameisen in den Ohren«, sagte er langsam. »Ich wußte, daß ich Anders etwas zugerufen hatte, aber ich wußte nicht, was. Ich riß die Tür auf. Das Schrotgewehr stand da wie immer. Blank geputzt und tadellos. Fertig montiert.«
»Und Munition?«
»Mehrere Schachteln. In einem Regal.«
Roberts Stimme klang belegt. Sejer hatte Mühe, ihn zu verstehen.
»Weißt du noch, was du in diesem Moment gedacht oder gefühlt hast?«
»Gar nichts. Ich war tot.«
»Wie meinst du das?«
»Mein Gesicht wurde immer kleiner. Ich weiß noch, wie die Haut um meinen Mund spannte. Das war schrecklich. Ich dachte, ich müßte die Zeit anhalten, damit ich einen neuen Anfang machen kann.«
»Wie wolltest du die Zeit anhalten?«
»Mit einem lauten Krach«, flüsterte er. »Beim Schießen würde es einen lauten Krach geben, dachte ich. Und alle würden aufwachen.« Er fuhr sich über die Stirn. »Ich wollte einen Knall. Der uns wecken würde.«
»Habt ihr geschlafen?«
»Alle waren so langsam. Entfernten sich.«
»Du hast das Gewehr geladen und bist wieder ins Zimmer gegangen. Was hast du dort gesehen?«
»Alle starrten mich an. Es gefiel mir, daß sie mir zuhören mußten. Sie hörten auf zu lächeln. Alle außer Anders.«
»Hast du etwas gehört?«
»Meinen Namen. Irgendwer hat mich gerufen. Von weit weg.«
»Warum hast du das Gewehr gehoben und gezielt?« Sejer beugte sich über den Tisch.
»Na ja. Weiß nicht…«
»Das mußt du wissen, Robert. Warum hast du das Gewehr gehoben?«
»Ich brauchte diesen Knall.«
»Aber du hast gezielt«, wiederholte Sejer. »Du hättest an die Decke schießen können. Aber du hast auf Anders gezielt.«
»Ja.«
»Du hast auf Anders gezielt und abgedrückt. Warum?«
»Ich weiß nicht. Ich trau mich nicht, das zu sagen.« Jetzt bat er laut und schrill um Schonung.
»Wir wollen doch nur versuchen, das zu verstehen«, sagte Sejer. »Ich lache nicht. Ich schlage dich nicht. Ich will nur verstehen.«
Robert
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