Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
hin.«
»Nein! Nein!« Er schrie los. Verdrehte die Augen vor Angst.
»Deine Füße liegen auf der Treppe – das muß doch weh tun.«
»Nein! Nicht!«
Ich erhob mich und trat hinter seinen Kopf. Zögerte kurz, dann bückte ich mich. Er jammerte und klagte, bat mich, ihn in Ruhe zu lassen. Aber ich zwang mich, hart zu bleiben, und schob die Hände unter seine Arme. Zählte bis drei und zog ihn das letzte Stück von der Treppe. Seine Schuhe klatschten leise auf den Boden. Er schrie nicht, er schien zu staunen. Als er mit geraden Beinen dalag, sah es besser aus.
»Ich spüre meinen Körper nicht. Ich spüre gar nichts«, sagte er plötzlich.
Das, was er sagte, das, was ich da angerichtet hatte, war zuviel für mich. Er, korrigierte ich mich, er hat das angerichtet. Ich war überwältigt von dieser Überlegung, vom Ernst der Lage, von der Schwere seiner Verletzungen. Ich mußte meine Verzweiflung mit Gewalt unterdrücken, sie war unerträglich. Ich sprang auf.
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen!«
Er öffnete den Mund, um eine Erwiderung zu schreien, aber das gelang ihm nicht. Er hatte keine Kräfte mehr. Ich ging nach oben. Klappte die Luke zu. Ob er sich das Rückgrat gebrochen hatte? Konnte jede Verbindung nach unten gekappt sein, würden alle Nerven ihre Funktion einstellen – und würde er so leben können? Bekam er genug Sauerstoff? Aber ich konnte nicht mehr zurück. Ich konnte nicht mehr zurück, seitdem ich die Kellerluke zum ersten Mal zugeschlagen hatte. Kein Weg zurück. Und auch keiner vorwärts. Ich setzte mich an den Tisch und legte den Kopf auf meine Hände. Immer wieder tauchte sein Gesicht vor mir auf und riß mich aus meinen Gedanken. Aber dann fühlte ich mich wieder wohl und warm und zufrieden. Ich dachte, nächstes Mal kann ich heiße Milch in die Flasche geben, vielleicht mit etwas Zucker. Oder mit zwei Valium, damit er schlafen kann. Diese Überlegungen schenkten mir eine Art Frieden. Man kann so viel Gutes tun, wenn man nur will. Ich blätterte in den Zeitungen, fand aber wirklich keine ohne Gewalt oder Katastrophen. Ein junger Mann hatte seiner Freundin ins Gesicht geschossen. Andreas war nicht der einzige, es gab viele wie ihn. Eine Geschichte war schlimmer als die andere. In regelmäßigen Abständen wandte ich mich ab und schaute mich um. Ich wartete auf irgend etwas. Auf ein Gesicht am Fenster, einen Anruf. Als endlich die Türklingel ging, wäre mir fast das Herz stehengeblieben. Aber es beruhigte sich wieder, als ich mir überlegte, daß ich ja nicht zu öffnen brauchte. In meinem Leben und meinem Haus bestimmte schließlich ich. Ich ließ es klingeln, aber es hörte nicht auf. Am Ende schaute ich durch den Türspion. Auf der obersten Stufe ragte eine Gestalt auf, und ich starrte in ein verweintes Gesicht. Es war meine Freundin. Andreas’ Mutter.
Robert wurde von zwei Beamten aus der Gefängnisabteilung herübergebracht. Er war sehr bleich. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Nicht aus Protest, er konnte einfach keine Nahrung bei sich behalten. Er lebte von Cola und Kaffee und Zigaretten. Er wollte nicht ausweichen, wollte keine Ausflüchte vorbringen. Wollte einfach nur verstehen. Mehr konnte er nicht liefern. Plötzlich hatte er alle Zeit der Welt, und er hatte sehr bald begriffen, daß der beste Weg zurück ins Leben über Kooperationsbereitschaft führte. Außerdem waren sie nett, alle behandelten ihn sehr freundlich. Wirklich alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten. So wie dieser Hauptkommissar. Robert setzte sich langsam. Warum hätte er sich beeilen sollen? Wie konnte er sich verstecken? Daß er Anita umgebracht hatte, würde ihn ewig verfolgen. Er würde es wie einen Drachenschwanz hinter sich herschleppen müssen. Er hatte in seinem Leben noch nicht viel angestellt. In der Schule war er zwar keine Leuchte, aber es fehlte ihm nicht an Freunden, er war ein positiver Junge, wie es in seinem Zeugnis hieß. Und er hatte wie die meisten Jungen geglaubt, daß auch er eine lichte Zukunft vor sich habe. Daß er alle Fallen würde umgehen können. Und jetzt war er hier, des vorsätzlichen Mordes angeklagt. Dieses Wissen war wie ein Vorschlaghammer, der mit zuverlässiger Präzision zuschlug, wieder und wieder. An diesen Schmerz hatte er sich schon gewöhnt.
»Du kannst gern rauchen«, sagte Sejer. »Und sag Bescheid, wenn du etwas brauchst. Egal, was.«
»Danke«, sagte Robert.
Er starrte den grauen Mann an. Sejer
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