Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
erhob sich zu einer imposanten Größe, wirkte aber nicht bedrohlich. In erster Linie machte er seine Arbeit. Das war ihm anzusehen. Er befand sich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation. Robert war kein besonderer Fall, nicht hier, er war nur einer von vielen. Anders wäre es ihm lieber gewesen. Wenn er der erste gewesen wäre. Und deshalb unvergeßlich.
»Den Psychologen, Robert? Der kommt, wenn ich anrufe.«
»Es geht auch so.«
Sejer nickte. Fuhr sich durch die grauen Haare. Robert ahnte, daß hinter seinem ruhigen Wesen gewaltige Kräfte schlummerten, die rasch in Zorn umschlagen konnten, wenn er sich nicht kooperativ zeigte. Sejer trug Hemd und Schlips und eine diskrete graue Hose mit scharfer Bügelfalte. Seine grauen Augen musterten Robert ruhig.
»Ich möchte eins klarstellen, was dieses Gespräch angeht. Es wird vielleicht nicht leicht, aber versuch es trotzdem.« Er zog den Stuhl näher an den Tisch. »Während des ganzen Gesprächs, während wir das Geschehene durchgehen, versuch bitte, wenn du das schaffst, nicht auf die Tatsache zurückzugreifen, daß du an dem Abend ziemlich gebechert hattest. Wir wissen beide, daß du reichlich blau warst.« Er verstummte und starrte Robert an, und der starrte aus weitaufgerissenen Augen zurück, nickte dann aber mehrere Male. »Und wir wissen beide, daß es nicht passiert wäre, wenn du nicht betrunken gewesen wärst.«
Robert schlug die Augen nieder. Er hörte, wie seine Wimpern auf seine Wangen auftrafen.
»Wir werden einfach den Verlauf des Abends durchgehen, so, wie er in deiner Erinnerung aussieht, ohne uns um den Alkohol zu kümmern. Mit der Trunkenheit können wir die Ereignisse immer noch in Verbindung bringen. Darum wird sich die Verteidigung kümmern. Verstehst du?«
»Ja.«
Robert hob unter dem Tisch seine schweißnassen Hände. Schaute seine Schuhe an. Knastbeine, dachte er. Robert, der Häftling.
»Beschreib den Tag, an dem das alles passiert ist. Fang mit morgens an, als du aufgestanden bist, und erzähl weiter bis zu dem Moment, in dem Anita tot auf dem Boden lag. So gut du kannst. Und laß dir Zeit«, fügte er hinzu.
Robert holte tief Luft. »Der Wecker hat um zehn vor acht geschellt.« Meine Stimme, dachte er, das ist die Stimme eines Kindes. So dünn. »Ich bin morgens eigentlich immer ziemlich müde. Aber es war Freitag. Freitags ist es leichter«, sagte er und lächelte. »Da weiß ich, daß wir bald frei haben. Wir hatten ein Fest geplant. Mußte nur ein paar Stunden zum Job. Und Anita wollte kommen. Sie hatte eine Verabredung zum Kinderhüten verlegen können. Und mein Vermieter war verreist, und wir hatten das ganze Haus. Ja«, er holte noch einmal Luft, »es war ein ganz normaler Tag. Mir ging’s gut. Besser als sonst«, fügte er hinzu.
»Und warum?«
»Wegen – Anita.«
Es kostete ihn unendlich viel, den Namen auszusprechen. Anita, Anita. Hätte dieser Name nur aus sämtlichen Registern der Welt gelöscht werden können! Es gab viele Anitas. Jedesmal, wenn er den Namen hörte, würde alles wieder hochkommen.
»Zugleich«, er räusperte sich, »hatte ich vielleicht den Verdacht, daß es so nicht bleiben würde. Ich meine, für immer. Und wenn ich mir das überlegte, war ich traurig. Ab und zu dachte ich daran.«
»Warum?« fragte Sejer. »Warum traurig?«
»Anita war – toll. Ich konnte mir nichts Besseres vorstellen als sie. Aber im tiefsten Herzen wußte ich, daß sie sich bald einen anderen suchen würde. Einen Besseren als mich. Früher oder später.«
»Woher wolltest du das wissen?«
Sejer musterte Roberts Schultern. Sie krümmten sich, wie Schultern es tun, wenn von hinten ein kalter Wind weht.
»Sie hat sich benommen, wie man das von einer Freundin erwarten kann. Aber sie wirkte nicht übermäßig hingerissen von mir. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich an Anders ranmachen würde. Oder an Roger oder irgendeinen anderen. So ist das eben für Leute, die die Wahl haben. Ich hatte noch nie die Wahl«, fügte er hinzu. »Deshalb war das so wichtig für mich. Eine Freundin zu haben. Nein, nicht einfach eine Freundin, da war sie nicht die erste. Anita zu haben.«
Sejer stützte das Kinn in die Hände. »War Anita die schönste Frau, die du je gehabt hast?«
»Das war sie wohl. Und so was fällt ja auf. Wenn man mit ihr über die Straße geht. Die Leute starren ihre Haare an, Sie wissen schon. Und dann wollen sie den Typen sehen. Den, der diese Frau aufgerissen hat.«
Sejer musterte ihn eingehend.
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