Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
eine Hand auf den Arm. Das war seltsam. In all den Jahren hatte ich das noch nie gemacht. Sie blickte meine Hand überrascht an.
»Wenn sie herkommen«, sagte sie mit flehender Stimme, »die Polizisten. Um mit dir zu reden. Versprichst du mir dann eins?«
»Herkommen?« In meiner Brust verkrampfte sich alles.
»Du kennst ihn doch.«
»Nein, nein. Ich kenne ihn nicht.« Ich spürte, wie ich blaß wurde. »Er ist nie zu Hause, wenn ich dich besuche. Ich habe ihn vielleicht einmal gesehen. Höchstens zweimal.«
»Was sagst du da?« Entsetzt starrte sie mich an.
»Ich meine, ich kenne ihn wirklich kaum, Runi.«
»Aber du weißt, wer er ist. Sag so was nicht!« Sie breitete die Hände aus. »Ich bitte dich doch nur inständig, ein gutes Wort für den Jungen einzulegen. Sie werden fragen, was er für ein Mensch ist. Sie dürfen nicht glauben, daß er mit Drogen oder Alkohol zu tun hat. Du mußt ihnen die Wahrheit sagen, nämlich, daß er ein braver Junge ist.«
Mir brach der Schweiß aus. Das passiert mir fast nie. »Aber ich weiß doch gar nicht, was er in seiner Freizeit so macht.«
»Herrgott, das kannst du doch wohl für mich tun?«
»Aber ich kann die Polizei doch nicht belügen!«
Jetzt sah sie so verzweifelt aus, daß mir der Mund zuklappte.
»Sie belügen? Davon kann keine Rede sein! Du sollst ihnen nur die Wahrheit sagen. Andreas ist ein anständiger Junge mit fester Arbeit. Sie dürfen nicht den Eindruck gewinnen, daß er Dreck am Stecken hat. Sonst geben sie sich bei der Suche keine Mühe. Dann überlassen sie ihn seinem Schicksal. Wenn es wenigstens um ein Mädchen ginge! Dann läge die Sache anders, da kann viel mehr passieren. So denken sie nämlich. Es war schon schwer genug, ihnen überhaupt klarzumachen, daß die Lage ernst ist, das kann ich dir sagen.«
»Verzeihung, Runi. So war das nicht gemeint. Aber ich hoffe, daß sie nicht herkommen. Und sie kommen nicht her, wenn du meinen Namen nicht nennst. Es muß doch Leute geben, die ihn besser kennen. Du weißt, daß ich ihn eigentlich nicht kenne.«
»Du willst mir nicht helfen?« Sie schien wie gelähmt. Als könne sie jeden Moment von ihrem Stuhl fallen.
»Doch, sicher.«
»Ich habe deinen Namen längst genannt. Sie wollen mit allen reden, die ihn kennen.«
Ich stand auf und fing an, die Anrichte aufzuräumen, obwohl da gar nichts aufzuräumen war, ich verschob Gewürzgläschen und Topflappen und Blumentöpfe. Sie durfte nicht sehen, daß ich dem Zusammenbruch nahe war. Die Polizei vor der Tür! Und dann hörte ich das Geräusch wieder. Drehte sofort das Radio lauter. Starrte fieberhaft aus dem Fenster.
»Nein, bitte.«
»Es ist nur, weil du mich so nervös machst«, stammelte ich.
»Was ist eigentlich mit dir? Warum gehst du nicht zur Arbeit?« fragte sie plötzlich. Erst jetzt schien sie mich wirklich zu sehen. Ich fand das schrecklich.
»Ach, ich fühl mich einfach nicht wohl. Das geht sicher vorüber.«
Sie schwieg. Und ich schwieg. Draußen regte sich ein schwacher Wind. Die Birkenzweige, die über das Dach des Pavillons hingen, wischten über die grünen Platten wie eine Andeutung der heftigeren Stürme, die später im Herbst kommen würden.
»Weißt du, was ich in der Zeitung gelesen habe?« fragte Runi leise.
»Nein.«
»Da stand etwas über eine Gruppe von Jugendlichen, die bei dem einen auf der Bude ein Fest hatten. Du weißt schon, wie sie das so machen. Ganz harmlos. Vielleicht ein Bier oder zwei.«
»Ja?« Ich dachte an meine Jugend. Ich wurde nie zu solchen Festen eingeladen. Henry und ich gingen allein spazieren. Er war sehr schüchtern.
»Einer hatte eine neue Freundin. Aber dann hat einer von den anderen – na, du weißt schon. Sich an sie heranmachen wollen. Und da war er so wütend, daß er ein Schrotgewehr geholt und ihr ins Gesicht geschossen hat. Sie war sofort tot.«
»Das habe ich gelesen. Warum erzählst du mir das?«
»Ich denke an Andreas. Daran, was alles passiert sein kann.«
»Aber du glaubst doch nicht, daß irgendwer auf ihn geschossen hat? Das glaubst du doch nicht!«
Jetzt weinte sie wieder. »Nein. Aber so schrecklich es auch sein mag, ich will lieber alles wissen, als noch länger diese Ungewißheit ertragen zu müssen. Was habe ich bloß falsch gemacht, Irma?«
Da hätte ich eine ansehnliche Liste herunterbeten können. Aber es war ja doch zu spät.
»Ich finde, du solltest nach Hause gehen und dich hinlegen«, sagte ich mit fester Stimme.
»Mich hinlegen?« Sie blickte mich ungläubig
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