Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
angst. Wünschte er Andreas den Tod? Nein, das nicht, aber wenn Andreas plötzlich auftauchte, würde dann alles herauskommen? Wer sie waren, was sie getan hatten? Lieber wollte er den Rest seines Lebens in Einsamkeit verbringen, als sich wegen des Babys verantworten zu müssen. Er brauchte etwas, worauf er seinen Blick richten konnte. Etwas, das er bis in die kleinste Einzelheit mustern und in Gedanken korrekt und präzise beschreiben konnte. Wie Gefangene das wohl in der Zelle machten. Der Schlips des anderen. Ein graublauer Schlips mit einer kleinen gestickten Kirsche…
»Ich muß dir etwas erzählen, Zipp.«
Jetzt kommt es! Er weiß es ja doch! Sein Haaransatz, regelmäßig und gerade, und die dichten stahlgrauen Haare…
»Du hast dich in einer tiefen Ruhe eingekapselt. Das ist keine Kunst. Das kann jeder. Ich erreiche dich nicht. Aber das, was du machst, erfordert tiefe Konzentration.«
Was für ein Scheißvortrag. Den hatte er sicher bei einem Kurs gelernt. Er hatte große Hände mit langen Fingern, die Nägel waren sauber und weiß. Scheißpingelig, der Typ. Am Revers steckte eine Nadel, sah ein bißchen aus wie ein Regenschirm…
»Das Problem mit der tiefen Konzentration ist, daß sie soviel Kraft verschlingt. Du kannst sie eine Weile beibehalten, dann verlierst du sie aus dem Griff. Erzähl, was du weißt. Du schiebst das im Grunde doch nur auf. Und der Aufschub verschlingt Zeit. Diese Zeit könnten wir nutzen, um Andreas zu suchen. Wir könnten seine Mutter anrufen und sagen: Wir haben ihn gefunden, Frau Winther. Unversehrt.« Er beugte sich vor. »Und das verdanken wir Zipp, der zur Vernunft gekommen ist.«
»Ich bin nicht vernünftig, so einfach ist das. Ich bin gleichgültig, ich scheiße ganz einfach auf alles…«
»Es ist unmöglich, diese Konzentration lange beizubehalten. Sie ist von Hormonen abhängig, über die du keine Kontrolle hast. Plötzlich schießen sie wie eine Fontäne in uns hoch. Gerade in deinem Alter. Mit der Zeit fällst du aus dieser Stimmung heraus und gleitest hinüber in eine andere…«
»Halten Sie doch endlich die Klappe!« Zipp zitterte plötzlich heftig. »Sie können mir nichts tun.«
Sejer lächelte traurig. »Bist du dir da so sicher? Liest du keine Zeitungen?« Er senkte die Stimme. »Wenn du wüßtest, wie wütend ich werden kann.« Dann sprang er auf und schob seinen Sessel zurück. Strich seine Jacke glatt. Sah Zipp an. Sein Lächeln war freundlich, fast jovial.
Zipp versuchte, sich stark zu machen.
»Du kannst jetzt nach Hause gehen.«
Zipp blieb sitzen und glotzte. Das konnte eine Falle sein.
Wenn er jetzt aufstand und losging, stellte der andere ihm vielleicht ein Bein.
»N-nach Hause gehen?«
»Leg dich in dein warmes Bett. Und widme Andreas einen freundlichen Gedanken.«
Zipp versuchte, sich darüber zu freuen, daß er dichtgehalten hatte, aber statt Freude fand er nur Leere. Aber das Baby, dachte er, davon haben sie keine Ahnung. Immerhin. Die Zeit verging, und er war noch immer unversehrt. Er schlich sich an Sejer vorbei. Reichte ihm nur bis zum Revers. Und sah die Nadel. Einen kleinen goldenen Fallschirmspringer.
Anna Fehn öffnete die Tür und musterte Sejer. Was sie sah, gefiel ihr, aber zugleich hatte sie Angst. Das halbfertige Bild von Andreas stand auf der Staffelei. Und jetzt wollte die Polizei sie befragen. Wieviel sollte sie erzählen? Was würde der Mann denken? Er setzte sich nicht, als sie auf das Sofa zeigte.
»Warum sind Sie gekommen? Wie haben Sie mich gefunden?«
Er lächelte kurz. »Das ist eine kleine Stadt. Ich bin nur neugierig. Könnte ich wohl das Bild sehen, das Sie von Andreas malen?«
Sie ging ihm voraus in ein anderes Zimmer, das größer und heller war. Die Staffelei stand rechts neben dem Fenster, so daß das Licht von links darauf fiel. Sejer konnte Andreas nicht erkennen, denn der hatte den Blick gesenkt und starrte einen Punkt auf dem Boden an. Aber die Haare vielleicht, die wilden Locken. Ansonsten hatte sie sich auf seinen Körper konzentriert. Sejer war überrascht von der Nacktheit, er war nackter als auf einem Foto. Sein jugendlicher Körper verwandelte sich gerade und hatte deutlichere Konturen, als das in seinem Alter zu erwarten gewesen wäre. Er war in Blau- und Grüntönen gemalt worden, nur seine Haare waren rot.
»Gefällt ihm das? Modell zu stehen?«
Sie legte den Kopf schräg. »Es scheint so. Er sieht gut aus und weiß das auch.«
»Gefällt ihm das Bild? Bisher?«
Sie lachte
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