Dunkler Schnee (German Edition)
verbotene Schokolade vor dem Mittagessen war, dass Volker sie in einen Bann gezogen hatte, dem sie nicht widerstehen, dass sie die Achterbahnfahrt noch nicht beenden wollte. Wenn dann doch ihre Zweifel stark wurden, Zweifel an Laurens, an sich selber, an Volker, hatte sie sich lieber ein Glas Wein eingeschenkt, den Fernseher eingeschaltet und ihre Zweifel einfach weggetrunken. War sie müde genug, fand sie alles gar nicht mehr übel und sich selbst sogar mutig und unglaublich erotisch. Aber das erwähnte sie gegenüber Yvonne lieber nicht. Auch wenn sie der Freundin vertraute, so hatte sie doch das Gefühl, es wäre besser, keinen kompletten Seelenstriptease hinzulegen.
Die beiden Frauen fanden trotz angeregten Nachdenkens nicht mal die Spur einer Ahnung, wer der Verfasser des Briefes sein könnte.
Sie müsse auf jeden Fall mit Laurens reden, sagte Yvonne endlich, nur so könne sie dem Unbekannten den Wind aus den Segeln nehmen.
„Das geht nicht!“, rief Marisa und berichtete von Laurens’ seltsamer Bemerkung am Morgen.
„Vielleicht neigt er doch zu Gewalttätigkeiten! Ich möchte es wirklich nicht testen!“ Marisa fühlte sich leer, ausgebrannt und schwach. Leise fügte sie hinzu: „Ich habe das Gefühl, weder Laurens noch mich selber zu kennen.“
14. Nova Scotia – In Bedford
Marisa steht am Fenster und schaut auf das Bedford Bassin, das sich wie ein großer See an den Bedford Highway schmiegt. Ihr Blick schweift nach rechts, wo die erste der beiden Hängebrücken von Halifax die Bucht überspannt. Hinter der MacKay Bridge ragen am gegenüberliegenden Ufer die drei rot-weiß gestreiften Schornsteine des Kraftwerks in Dartmouth in die Höhe, die diesem Flecken Nova Scotias ihr Kennzeichen aufdrücken. Graue Rauchwolken quellen in den fast gleichfarbigen Himmel. Wegen des nah gelegenen Containerhafens von Halifax liegen auf der Bedforder Seite die Schienen für die Güterzüge, angepasst ans Ufer, jederzeit bereit, die von den Schiffen abgeladenen und auf Waggons gesetzten Container aufzunehmen und übers Land zu schicken, dahin, wo sonst nur der Himmelsbogen hinreicht. Ein Schiff mit rotem Rumpf schiebt sich langsam durch die Bucht, als suche es eine Anlaufstelle, ein riesiges Containerschiff dahinter hat seinen Platz schon gefunden. Die Verladekräne im Hintergrund warten bereits wie hungrige Reiher auf ihren Fang. Rund um das Ufer verteilt lugen Wohnhäuser und vereinzelte Lagerhallen wie Auswüchse aus dem Wald hervor. Wald, Bucht und Straßen tragen ein winterliches Grau, das Marisa frösteln lässt und dem man sich kaum entziehen kann. Es scheint, als zeige der Tag sein Negativbild – alle Farben aufbewahrt für den Positivabzug, dessen Entwicklung noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Marisa ist in Adams Appartement und wartet, dass er von der Arbeit heimkommt. Adam lebt alleine in einer Drei-Zimmer-Wohnung, arbeitet tagsüber in der Royal Bank Canada und trifft sich abends in der Regel mit seinen Freunden in Bedford oder Halifax. Als Hobby und Nebeneinkommen unterhält er drei Häuser und eine Wohnung, die er vermietet. Einzig das Haus in Wellington ist für Touristen vorgesehen. Marisa sieht sich um. Die Wohnung ist puristisch, aber geschmackvoll und teuer eingerichtet. Sie spiegelt nicht Adams Temperament und sein leicht hitziges Aussehen wider, ergänzt aber perfekt sein Wesen und macht ihn dadurch komplett. Marisa erstaunt sich nicht wenig, während sie sich die Zeit nimmt und durch die Räume stöbert. Nach ihrem Rundgang hat sie das Gefühl, Adam ein wenig mehr kennengelernt zu haben.
Sie ist am Tag zuvor mit ihm kreuz und quer durch Bedford und Halifax gefahren, ein paar Mal über die MacKay Bridge und über die MacDonald Bridge wieder zurück, bis sie sicher waren, dass ihnen niemand folgte. Dann kamen sie erschöpft in seiner Wohnung an, haben den Fernseher eingeschaltet und sich mit mehreren Flaschen Bier müde getrunken. Adam hatte Fragen, viele Fragen, aber Marisa war kaum in der Lage zu reden. Sie verschoben alles auf den heutigen Tag. Wenn Adam nach Hause kommt, wird sie mit ihm reden müssen.
Sie beschließt, ihm ein leckeres Abendessen zu machen und zieht sich an, um zur nahe gelegenen Fischhalle zu gehen. Dort wird sie den frischesten Fisch der ganzen Gegend bekommen. Wenige Augenblicke später tritt sie auf die Straße. Ein Mann kommt ihr entgegen; er führt einen Hund an der Leine. Marisas Herz verstolpert einen Schlag – der Hund hat große Ähnlichkeit mit Bruno. Bei
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