Dunkler Schnee (German Edition)
einem dicken Kloß im Hals wieder den Dodge. Bevor sie den Motor startet, verpackt sie den Schmuck in eine andere Tasche, kontrolliert vor deren Schließen noch zigmal die einzelnen Teile und zweifelt wieder am eben gefassten Plan. Es sieht nach kümmerlich wenig Schmuck aus, auch wenn sie hier ein beträchtliches Vermögen in den Händen hat. Doch der Schmuck ist nur Plan B, sagt sie sich immer wieder. Sie verstaut die Tasche im Fußraum und versucht sich auf die anstehende Fahrt zu konzentrieren. Der Himmel ist eintönig grau, verheißt nichts Gutes. Plötzlich hat sie ein unsäglich starkes Begehren nach einem beruhigenden Tropfen.
„Nein!“, sagt sie laut und noch einmal: „Nein! Du kriegst mich nicht dazu, wieder mit dem Mist anzufangen!“
Sie legt die Hände aufs Lenkrad, lehnt die Stirn für einen Moment an die Hände und startet dann mit ruhigen Bewegungen das Auto. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass sie nun zügig los sollte, denn der Nachmittagsverkehr nimmt bereits zu. Siedend heiß fällt ihr ein, dass Georg sie vermutlich immer noch beobachtet, und ihr zögerliches Losfahren für Schwäche halten wird.
„Egal“, murmelt sie vor sich hin, „denk doch, was du willst.“
Die 45 Kilometer lange Fahrt bis Peggy’s Cove dauert wegen des schlechten Wetters weit über eine Stunde. Es geht durch die verschneiten bewaldeten Hügel Nova Scotias. Der Highway selber ist so weiß wie ein Weihnachtsstollen, und Marisa hat Mühe, in der Spur zu bleiben, da die Markierung nicht mehr zu erkennen ist. Schon um drei Uhr ist es so dunkel wie sonst erst um fünf.
Das ist Wahnsinn, denkt sie ununterbrochen und fühlt wieder diese unbezähmbare Wut auf Georg. Nicht nur sie selbst und ihre Eltern sind in Gefahr, sondern auch die Menschen um sie herum, die so selbstlos ihre Hilfe angeboten haben und alles stehen und liegen lassen, um ihr aus dem Schlamassel zu helfen. Was, wenn Todd oder Adam bei dem Schneetreiben einen Unfall haben? Oder David und Pam? Nur nicht den Teufel an die Wand malen, ich bin Georgs Nemesis, nur das zählt jetzt! Die Steine sind ins Rollen gebracht und jetzt wollen wir auch sehen, wo sie liegen bleiben. Glück dem, der Glück verdient! Kaum gedacht, erkennt sie vor sich im flirrenden Flockenfall den Umriss eines mächtigen Schneepfluges, der sich auf die Autobahn schiebt. Sie bleibt hinter dem Koloss und spürt, wie die Reifen auf der geräumten Spur besser greifen; eine flüchtige Entspannung für die Fahrerin. Sie schaltet das Radio ein und lauscht verschiedenen Country-Songs, unterbrochen von den nicht enden wollenden Nachrichten über den winterstorm an diesem Nachmittag.
Als der Highway endlich auf die Küstenstraße stößt, biegt der Schneepflug ab und Marisa ist wieder auf sich alleine gestellt. Sie stellt das Radio wieder ab, um sich nicht ablenken zu lassen. Angestrengt schaut sie immer wieder in den Rückspiegel, wo hin und wieder ein Scheinwerferpaar in weiter Entfernung zu sehen ist. Der Schneefall wird noch einmal dichter, doch dann endet er abrupt, als das offene Meer auf ihrer linken Seite sichtbar wird. Der Atlantik rollt schwarz an die Küste, stößt an Granitfelsen, die trotzig ihre jahrtausendealte Position beibehalten.
Gemütlich im Gegensatz zur Naturgewalt wirken die farbigen Häuser an der Küstenlinie und fast schmerzlich wünscht Marisa sich, in einem solchen am flackernden Kamin zu sitzen, statt durch diese Unwirklichkeit zu fahren.
Kurz vor Peggy’s Cove öffnet sich die Landschaft zu ihrer Rechten, schutzlos dem Wintertreiben ausgeliefert. Ein paar schneebedeckte, baumlose Hügel sind auszumachen, alles andere, was der Landstrich zu bieten hat, verschwindet an diesem dunklen Nachmittag im willkürlichen Tun der Himmelsgewalten.
Marisa biegt links ein und passiert den Dorfeingang. Ein beschrifteter Findling am rechten Wegesrand heißt Besucher willkommen, doch der Schnee hat Teile der Wörter bedeckt.
Wenige Meter hinter dem Dorfeingang liegt düster auf der linken Seite ein Besucherinformationshaus, das in der Saison über die Besonderheiten der Gegend Auskünfte bietet. Das Dorf wirkt jetzt im Winter wie eine ausgediente Filmkulisse. Die wenigen Dorfbewohner, die auch in dieser Jahreszeit hier sind, scheinen alle unterwegs zu sein, nirgendwo ist auch nur ein erleuchtetes Fenster zu sehen. Marisa späht links und rechts; die Häuser sehen wie abgestellt aus; der Schnee hat alle Macht übernommen, dominiert die Szenerie. Kein Mensch, kein Auto, kein
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