Dunkler Wahn
hätte?«
»Das wäre durchaus denkbar«, stimmte Jan ihm zu. »Gegen eine Beziehung zu Gott wird Tatjana nichts einzuwenden gehabt haben. Hinzu kommt der spirituelle Aspekt, immerhin war sie selbst jemand, an den man glauben musste. Und vergessen wir nicht den Onkel, bei dem Thanner aufgewachsen ist. Auch er ist Pfarrer gewesen.«
Geistesabwesend wischte Stark die Regentropfen vom Treppengeländer, dann betrachtete er seine nassen Fingerspitzen, als habe er noch nie Wasser gesehen.
»Aber was war mit seiner wirklichen Stiefschwester?«, fragte er. »Er muss doch gewusst haben, dass sie überlebt hatte.«
»Natürlich, aber durch die Dissoziation wird er diese Tatsache verdrängt haben«, mutmaßte Jan. »Erst als ihm alles über den Kopf gewachsen ist, hat er die reale Tatjana aufgesucht. Wahrscheinlich hatte er sie so gut verdrängt, dass er sichergehen wollte, ob es sie tatsächlich in der realen Welt gab, um uns anschließend auf sie hinzuweisen. Er machte sie für die Morde an seinen Eltern, an Nowak und diesem Geschäftsmann verantwortlich. Das wollte er uns damit sagen. Aber kurz nach seinem Besuch im Pflegeheim machte sich die imaginäre Tatjana wieder bemerkbar. Sie wehrte sich gegen Felix’ Vorhaben, indem sie zum Harderhof zurückkehrte, um ihm dort in Erinnerung zu rufen, warum es sie gab und weiterhin geben musste. Sie wollte ihm beweisen, dass er nicht ohne sie sein konnte und sie deshalb nicht verraten durfte.«
Wieder schüttelte Stark den Kopf. Es war ihm anzusehen, wie schwer er sich tat, dies alles zu erfassen. »Bei allem Respekt«, seufzte er, »aber Ihre Theorie hat aus meiner Sicht einen Haken. Selbst wenn es so gewesen wäre, wie Sie
sagen, aber in all den Jahren muss doch irgendjemandem aufgefallen sein, dass mit Thanner etwas nicht stimmte?«
»Nicht unbedingt«, widersprach ihm Jan. »Immerhin war Felix ein verschlossener und schüchterner Mensch, der auf andere ein wenig sonderbar wirkte – mich eingeschlossen, aber ich habe mir, wie alle anderen vermutlich auch, nichts weiter dabei gedacht. Außerdem verläuft die Entwicklung einer psychischen Störung nicht immer offensichtlich. Nicht jeder rennt durch die Fußgängerzone, beschimpft Leute und rezitiert Bibelverse. Tatjana hielt sich bedeckt. Ihre gelegentlichen körperlichen Präsenzen lebte sie im Geheimen aus, im Kellerraum des Pfarrhauses – oder nachts auf dem Friedhof.«
»Das ist auch so etwas, das ich nicht verstehe, Doktor. Warum ging er auf den Friedhof?«
»Auch dazu kann ich nur Vermutungen anstellen. Der nächtliche Friedhof muss wohl ein Ort gewesen sein, an dem sich Jana unbeobachtet wähnte. Sie wollte ihrem Kellergefängnis entkommen, wie sie mir sagte. Sie wollte hinaus in die reale Welt. Aber sie durfte sich natürlich niemandem zeigen. Wer weiß, vielleicht war sie auch noch an anderen abgelegenen Orten unterwegs? Das bleibt wohl eines der Geheimnisse, die sie mit ins Grab genommen hat. Aber abgesehen davon, ist sie ja jemandem aufgefallen. Volker Nowak hat Tatjana gesehen, nur hat sie dafür gesorgt, dass er niemandem davon erzählen konnte.«
Eilige Schritte kamen die Straße entlang. Jan erschrak, als er die Joggerin am Haus vorbeilaufen sah, deren langes blondes Haar aus der Kapuze ihrer Trainingsjacke fiel.
Sie blickte kurz zu ihm, und im Dämmerlicht der Straßenbeleuchtung sah sie ein wenig aus, wie Felix Thanner ausgesehen haben musste, wenn er in die Rolle seiner Stiefschwester verfallen war. Doch schon im nächsten Moment
war sie wieder eine ganz gewöhnliche Joggerin, groß, schlank und durchtrainiert – eine Frau, die sich bei ihm über Hundehaufen auf dem Gehweg vor dem Haus beschweren würde, wenn sie hineingetreten war.
Er rieb sich die Augen und sah ihr nach. Es war die Müdigkeit, die seiner Sinneswahrnehmung Streiche spielte. Daran, dass die Bedrohung durch Tatjana – oder Jana, wie sie sich selbst genannt hatte – nun vorüber war, würde er sich erst wieder gewöhnen müssen. Die Paranoia, die er ihretwegen durchlebt hatte, war noch zu präsent.
»Was mich am meisten irritiert, ist Thanners Selbstmord«, holte Stark ihn aus seinen Gedanken zurück. »Warum hat er das getan?«
»Es war nicht Thanner, sondern Tatjana«, berichtigte ihn Jan. »Thanner sagte mir, er habe sie zu überreden versucht, sich zu stellen. Genau genommen, meinte er damit seinen schweren inneren Konflikt, aber für ihn muss es gewesen sein, als würde er eine fremde Person überführen wollen. Tatjana hatte
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