Dunkler Zauber
Straßenkarten, Helfende Hände-Flugblätter und ein Paket Taschentücher. Leere Wasserflaschen und Pizzakartons waren auf dem Boden verteilt. Die Rückbank war leer.
Cam wollte schon wieder gehen, als ihr etwas ins Auge fiel, das hinter die Lehne des Fahrersitzes geklemmt war. Ein Stück Papier, so klein, dass es keinem normalen Menschen aufgefallen wäre. Zum Glück aber hatte Cam bemerkenswert scharfe Augen. Sie konzentrierte sich auf das Stück Papier. Offenbar handelte es sich um ein Zahlungsbeleg. Von einem Billig-schmuck-laden in Boston namens Trompe L'Oeil. Und - hey! - die Webb hatte dort ungefähr ein Dutzend unterschiedlicher Posten gekauft. Nur ... Cams Augen brannten, als sie versuchte, den Zettel noch genauer zu sehen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Unterschrift nicht entziffern. Jedenfalls stand da nicht Cecilia Webb. Der erste Buchstabe des Vornamens war eindeutig ein B. Der Nachname begann mit einem R.
Die Quittung war sicherlich interessant, doch Cam konnte sich den Zusammenhang zwischen dem Zettel, dem Anruf aus dem Knast und dem Ladendiebstahl nicht erklären.
Währenddessen fuhr Ms Webb damit fort, ihre Schüler zu quälen, schoss in rascher Folge Fragen auf sie ab, halste ihnen wahre Berge von Hausaufgaben auf. Doch mit der Zeit verlief sich die Nörgelei der Klasse. Die meisten passten sich an. Besonders eine Schülerin schien unter der harten Linie der Vertretungslehrerin zu erblühen: Elisabeth Fish.
Beth war zur Einserkandidatin aufgestiegen und brachte einen Einstein-Gedanken nach dem anderen vor. Ihre Hausaufgaben waren so vorbildlich, dass die Webb sie mehrfach laut vorlas. Unangekündigte Tests, für Cam eine der schlimmsten Plagen überhaupt, wurden zu Beths Lebensinhalt.
Doch es gab auch eine Kehrseite zu diesen glänzenden Leistungen: Ebenso rasant wie ihre Note in Landeskunde sich verbesserte, rutschte Beth in so ziemlich allen anderen Fächern ab. In einer E-Mail-Konferenz des Six Packs bemerkte Kris, dass Beth, die früher in Spanisch ihre härteste Konkurrenz gewesen war, die letzte Klassenarbeit vollkommen verhauen hatte. Und Amanda schrieb: Sie war überhaupt nicht vorbereitet in Algebra. Ich glaube, sie hatte nicht mal ihre Hausaufgaben gemacht. Sukari ergänzte : Puhl Und ich dachte, es wäre nur ein vorübergehender Anfall von Geistesschwäche, als dem Mädchen, die wir alle unter dem Namen Ms Zisch kannten, im Chemieunterricht das Zeichen für Jod nicht einfiel.
Beth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Neuerdings verbrachte sie überhaupt keine Zeit mehr mit dem Six Pack. Sie verpasste das freitagnachmittägliche Pizzafest und sie erschien samstags nicht zum Einkaufsbummel mit dem anschließenden Kinobesuch. Sie meldete sich auch kaum noch bei irgendjemandem, beantwortete keine E-Mails, las sie vielleicht nicht einmal. Und als die ganze Schule über eine neue Serie von Ladendiebstählen im Einkaufszentrum redete -wiederum die gleiche Masche, ein Mädchen und eine ködernde Erwachsene -, beteiligte sich Beth demonstrativ nicht an den Gesprächen.
Wie Cam es schon befürchtet hatte, erschien Beth zweimal nicht zum Fußballtraining und wurde aus der Mannschaft geschmissen. Schlimmer noch: Es schien ihrer Freundin egal zu sein. Eines Tages beim Mittagessen, als das Thema auf Helfende Hände kam, wurde Beth ganz pampig. Die freiwillige Arbeit nahm so viel Zeit in Anspruch, dass Amanda, die eigentlich hatte mitmachen wollen, von ihrem Entschluss wieder abgerückt war. Und Beth (gar nicht typisch) hatte dem unschuldigen Mädchen Vorhaltungen gemacht. »Na, offenbar ist es dir wohl doch nicht so wichtig, Kindern in Not zu helfen, wie du dir eingebildet hattest«, schnaubte sie verächtlich.
Amanda verteidigte sich: »Das ist nicht fair. Ms Webb hat verlangt, dass wir uns kontinuierlich jeden Tag nach der Schule treffen. Veranstaltungen organisieren, mögliche Sponsoren im Internet ausfindig machen, Flugblätter entwerfen und was weiß nicht noch alles. Du hast das mitgemacht und die Kids bislang noch nicht mal gesehen. Ich hätte überhaupt keine Zeit mehr für irgendwas anderes. Ich hab mich für die Fußballmannschaft verpflichtet und die brauchen mich da.«
»Und deine Freunde brauchen dich«, hätte Cam Beth am liebsten gesagt, aber sie tat es nicht. Ihre Freundschaft war angeschlagen. Cam wollte ihr nicht den Rest geben. Am Morgen des darauf folgenden Samstags, als sie auf der Suche nach ihrem Englischheft ihren Rucksack durchwühlte,
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